wird Platon gelegentlich als erster Feminist gepriesen, weil er in seinem Hauptwerk, Politeia, die Utopie eines Staates entworfen hat, in dem die Frauen die gleiche Ausbildung und Erziehung genießen wie die Männer. Gleichzeitig markiert seine dualistische Sicht der Welt jedoch die Abkehr vom einfachen, veränderlichen Dasein, das seiner Argumentation nach eine Wunschvorstellung ist und vom klugen Mann mit Verachtung behandelt werden sollte. Zu diesem Dasein zählte er auch Ehe und Fortpflanzung, niedere Bereiche des Lebens, die er mit den Frauen assoziierte. Er selbst war nie verheiratet und stellte die »reine« Liebe zwischen Männern über die Liebe zwischen Mann und Frau, die er näher zur animalischen Lust rückte. Platon hat diese Form des Dualismus – der dem Mann geistige Ziele und der Frau die fleischliche Lust zuordnet – nicht erfunden, aber er hat ihm eine philosophische Schlagkraft verliehen, die ihresgleichen sucht.31
Ein Philosoph entwickelt seine Gedanken nicht im luftleeren Raum; so abstrakt oder absurd sie auch sein mögen, es findet sich immer etwas in der konkreten Wirklichkeit, das eine Erklärung dafür liefert. »Platon war das Kind einer Zeit, die noch die unsere ist«32, schreibt Karl Raimund Popper in seiner Kritik an Platons Staatstheorie. Die Suche nach einer höheren, vollkommeneren Welt jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren fand vor einem geschichtlichen Hintergrund statt, der von Hungersnöten, Pestepidemien, Unterdrückung, Zensur und blutigen Bürgerkriegen gekennzeichnet war. Die Ereignisse, die Griechenland erschütterten, als Platon ein junger Mann war, prägten sein Denken. Er wuchs als Sohn einer wohlhabenden Athener Familie in der Zeit des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta auf, der, von wenigen Waffenstillständen unterbrochen, von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. dauerte. Selten hat sich ein Krieg so nachhaltig auf den Verlauf der Geschichte ausgewirkt wie dieser. Die Folgen des Peloponnesischen Krieges für Griechenland kann man mit den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Europa vergleichen. Er beendete das goldene Zeitalter des klassischen Griechenland und damit eine der künstlerisch und intellektuell fruchtbarsten Perioden, die die menschliche Zivilisation je erlebt hat. Die Destabilisierung des politischen Gleichgewichts in Griechenland bereitete den Weg für die Eroberungsfeldzüge mazedonischer und später römischer Truppen. Unter der Herrschaft der Dreißig, der pro-spartanischen Oligarchie in Athen, wurde Platons verehrter Lehrer Sokrates nach einer Anklage wegen Gottlosigkeit zum Tod durch Trinken des Schierlingsbechers verurteilt. Der Peloponnesische Krieg – und das allein schon machte ihn zu einem Wendepunkt in der Geschichte – veränderte Platons Sicht der Welt grundlegend. Er war jetzt von einem tiefen Misstrauen, ja Hass gegen die Demokratie erfüllt.
Platons erste Utopie war ein totalitärer, von einer Elite regierter und von »Wächtern« nach außen verteidigter Staat, dessen wirtschaftliche Grundlage von einer Unterschicht von Gewerbetreibenden und Bauern gewährleistet werden sollte. In der rigiden Welt dieses Staates sind frivole Lustbarkeiten wie Liebesdichtung und Tanz verboten, den Wächtern sind jeder materielle Besitz und jede Form von Eitelkeit verwehrt. Platon, der den Körper als etwas grundsätzlich Schlechtes betrachtete, machte aus seiner Verachtung für die sinnlich erfahrbare Welt keinen Hehl. In Symposion bezeichnet er individuelle Schönheit als »Nebensächlichkeit« und spricht von der Sterblichkeit als einer »Seuche«. »Wem sie [die Begierden] also nach Kenntnissen und allem dergleichen hinströmen«, erklärt er im sechsten Buch von Politeia, »dem gehen sie, denke ich, auf die Lust, welche der Seele für sich allein zukommt, und halten sich dagegen von der durch den Leib vermittelten zurück, wenn einer nicht zum Schein, sondern wahrhaft philosophisch ist.«33 Nichts ist erlaubt, was die Elite davon abhalten könnte, über das absolute Schöne und das absolute Gute nachzudenken – das absolut todsichere Rezept für absolute Langeweile.
Platon hat alle seine Werke in der Form von Dialogen zwischen Sokrates und seinen Schülern verfasst. In Politeia spricht er sich dafür aus, ausgewählte Frauen in die Klasse der Wächter aufzunehmen und Ihnen die gleichen Pflichten aufzuerlegen wie den Männern, und er begründet dies mit seiner Theorie, der einzige Unterschied zwischen den Geschlechtern liege in den biologischen Rollenverteilungen und physischen Kräften. Männliche und weibliche Wächter sollen gemeinsam ausgebildet werden und lernen, und sie dürfen »weder Häuser zu eigen haben noch Land noch sonst ein Besitztum«34. Gegenseitige Anziehung zwischen den Geschlechtern sei zwar unvermeidlich, so meint er, aber »ohne Ordnung sich zu vermischen oder irgend sonst etwas auf diese Art zu tun, kann wohl weder für fromm geachtet sein in einer Stadt von Seligen noch werden es die Oberen zulassen«35. Um eine echte Elite heranzuziehen, müssen sich die Besten mit den Besten zusammentun und Nachkommen hervorbringen. Die Produkte dieser Paarungen werden gleich nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, in einer staatlichen Institution aufgezogen und von Ammen genährt. So bleibt den Müttern das zeitaufwändige und kräftezehrende Geschäft des Stillens erspart. Und da Privatbesitz abgeschafft und daher nichts zu vererben ist, sind »so auch die Kinder gemein, so dass weder ein Vater sein Kind kenne, noch auch ein Kind seinen Vater«36.
Bei Platon geht die Gleichberechtigung der Frauen auf Kosten ihrer geschlechtlichen Identität. Sie sind sozusagen zu Männern ehrenhalber geworden. Der einzige biologische Unterschied, der ihnen zugestanden wird, ist die Vermehrung. (Ein paar Jahrtausende später wird in radikalfeministischen Kreisen die gleiche These aufgestellt werden – dass nämlich Männer und Frauen sich nur in ihren Geschlechtsteilen unterscheiden und alles andere anerzogen sei.) Die weiblichen Wächter dürfen Kinder gebären, aber keine Bindung zu ihnen entwickeln. Die »Mutterrolle« übernimmt der Staat. Kontrolle über die Sexualität ist der Schlüssel zur Herrschaft des Staates über seine Bürger. Sie wird zu einem politischen Instrument. Indem sie alle familiären Bindungen, insbesondere die zwischen Mutter und Kind, negiert, richtet sich Platons Utopie gegen den Gedanken der Individualität an sich. Und das hat sie mit allen totalitären Ideologien gemein, in denen der Individualismus ausgelöscht wird, damit sichergestellt ist, dass die Bedürfnisse des Staates uneingeschränkte Priorität genießen.
Die Verteufelung weltlicher Vergnügen gehört zu den Aspekten in Platons Utopie, die man in totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts wiederentdecken kann. Wenn Platon Sex als Mittel zu dem alleinigen Zweck propagiert, eine »Elite zu züchten«, nimmt er die nationalsozialistische Vision einer Herrenrasse vorweg. Die Geschlechtslosigkeit der weiblichen Wächter findet ihr Echo im kommunistischen China, wo Männer und Frauen in ihren Mao-Anzügen nicht mehr zu unterscheiden waren. In Afghanistan verboten die Taliban in ihrem fanatischen Eifer, einen islamischen Gottesstaat zu errichten, nahezu jede Form von Dichtung und Musik, und es galt sogar als subversiv, einen Frisörsalon zu eröffnen. In allen totalitären Staaten seit Platon war der Gebrauch von Make-up für Frauen verpönt.
Für Platon kann »das Andere« in verschiedener Form auftreten. Es kann beispielsweise auch nach Volkszugehörigkeiten definiert werden. Sokrates bezeichnet die Barbaren als die »natürlichen Feinde« der Griechen, so wie Frauen die »natürlichen Feinde« der Männer sind. Die Spaltung der Welt in widerstreitende Prinzipien macht es uns leicht, exklusive Kategorien zur Zuordnung von Menschen zu schaffen. Es ist kein Zufall, dass Misogynie und Rassismus oft im gleichen gesellschaftlichen Umfeld gedeihen.
Platons Dualismus findet seinen entschiedensten philosophischen Ausdruck in der Theorie der Formen, die den Wächtern als zentrale Weisheit und Kernpunkt ihrer Ausbildung vermittelt werden soll. Wer sie nicht begreift, kann die wahre nicht von der falschen Wirklichkeit unterscheiden. Und die wahre Wirklichkeit ist in Platons Augen nur mit dem Verstand fassbar.
Zur Theorie der Formen heißt es in Politeia:
Vieles Schöne und vieles Gute, was einzeln so sei, nehmen wir doch an und bestimmen es uns durch Erklärung. Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen es jegliches, was es ist. Und von jenem vielen sagen wir, dass es gesehen werde aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, dass sie gedacht werden aber nicht gesehen.37
Diese »Idee eines jeden« setzt Platon mit Gott gleich, der zeitlos ist in seiner Vollkommenheit. In einem Gespräch über das Wesen Gottes definiert er Gott als höchste Verwirklichung der Vollkommenheit und äußert sich abfällig über das homerische Pantheon, in dem die Götter sich, Zauberern gleich, ständig verwandeln. »Also ist es auch für Gott unmöglich, dass er sich selbst sollte verwandeln wollen; sondern jeder von ihnen bleibt, wie es scheint, das er so schön und trefflich