während den anderen Frauen nichts bleibt als ein Leben in Sklaverei und Wehklagen um ihre verlorenen Ehemänner, Väter und Söhne.
Die Geschichte der Helena ist wie die der Pandora eine Allegorie, in der körperliches Begehren und Tod untrennbar miteinander verbunden sind. Mit dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit – dem Öffnen des Fasses – bringt Pandora den Tod in die Welt, so wie Paris’ Verlangen nach Helena den Krieg mit allen seinen Schrecken entfesselt. Allegorien dieser Art sind Ausdruck dessen, was Sigmund Freud als den ewigen Kampf zwischen Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb – Thanatos – beschreibt.18 In einer frauenverachtenden Kultur lernen Frauen, schwere Schuldgefühle zu empfinden, weil ihre Schönheit Begierde weckt und so den Kreislauf von Leben und Tod initiiert.
Dieser komplizierte Tanz von Eros und Thanatos spielt auch in anderen Kulturen und Mythologien eine Rolle, hier aber vor allem als unausweichlicher Teil des Lebens. Mit den Göttinnen der keltischen Mythologie wird das Prinzip des Lebens wie des Todes assoziiert. Diese Doppelrolle wird jedoch nicht dualistisch, also als zwei ständig miteinander im Kampf liegende Prinzipien, interpretiert. Die Kelten sehen ihre Göttinnen als diejenigen, die unbefangen die Kräfte des Lebens und des Todes miteinander versöhnen, so wie es jede Mutter in Wirklichkeit tut: Indem sie Leben in die Welt setzt, bringt sie auch den Tod. Im Verständnis der Kelten ist diese Versöhnung von Leben und Tod kein Grund für Schuldzuweisungen und Vorwürfe, sondern sie liegt einfach in der Natur der Dinge. Aber in der dualistischen Weltsicht der Griechen verkörpert die Natur die Schwächen und Grenzen des Menschen, und die Frau verkörpert die Natur. Das macht sie für den Mann zur verhassten, Fleisch gewordenen Mahnung, die ihn permanent an seine Schwächen erinnert. Das ist die Sünde der Pandora und ihrer Töchter, für die das Patriarchat, von seinen Märchen bis zu seinen philosophischen Lehren, alle Frauen bestrafen will.
»Ein durchgängiges Prinzip der Mythologie lautet: In dem, was bei den Göttern dort oben geschieht, spiegeln sich immer Ereignisse auf der Erde«19, schreibt der britische Dichter Robert Graves. Beziehungs- und Verhaltensmuster, die ihre Legitimation in der Mythologie finden, schlagen sich in der Regel im Gesetzeswerk und in gesellschaftlichen Konventionen nieder. Im 6. Jahrhundert v. Chr. offenbarte sich dies in den neu entstandenen Demokratien und Stadtstaaten wie beispielsweise Athen, wo sehr schnell ein restriktiver Verhaltenskodex für Frauen entwickelt wurde.
Einem modern denkenden Menschen mag die Vorstellung, dass der gesellschaftliche Status der Frauen mit dem Aufkommen der Demokratie niedriger wurde, als eklatanter Widerspruch erscheinen. Aber Gleichberechtigung und allgemeines Wahlrecht waren nicht das ideologische Fundament, auf der die griechische und die römische Demokratie errichtet wurden. Beides waren Sklavenhaltergesellschaften, in denen demokratische Rechte nur für die erwachsenen männlichen Bürger galten. In einer Sklavenhaltergesellschaft hätte die Prämisse, dass alle Menschen gleich geboren werden, in einem offensichtlichen Widerspruch zu einer ebenso eigennützigen wie allgemeingültigen Wirklichkeit gestanden. Sklaverei war das »natürliche« Produkt systemimmanenter Ungleichheiten. In einer Gesellschaft, in der bereits eine Form der Ungleichheit institutionalisiert ist, hat es eine andere nicht schwer, sich durchzusetzen.
Gesetze, die vorschrieben, wie Frauen sich zu verhalten hatten und welche Möglichkeiten der Entfaltung sie genossen, belegen aufs anschaulichste und drastischste, wie Hesiods Allegorie der Frauenfeindlichkeit zu einem gesellschaftlichen Faktum wurde. Rechtlich gesehen standen Frauen in Athen auf der Stufe eines Kindes und blieben ihr Leben lang unter der Vormundschaft eines Mannes. Eine Frau durfte das Haus nur in Begleitung eines Aufpassers verlassen. Sie wurde selten mit ihrem Mann zu Tisch geladen und wohnte in einem abgetrennten Bereich des Hauses. Offizielle Bildungswege blieben ihr verschlossen. »Ein Weib soll sich nicht im Denken üben. Denn das wäre arg«, wusste der Philosoph Demokrit dazu zu sagen. Frauen wurden verheiratet, wenn sie die Pubertät erreichten, nicht selten mit einem Mann, der doppelt so alt war wie sie selbst. Der Altersunterschied und das geringere Maß an Lebenserfahrung und Bildung stärkten die Vorstellung von der naturgegebenen Minderwertigkeit der Frau. Den Ehemännern zur Warnung legt Menander einer Figur in einem seiner Lustspiele die Worte in den Mund: »Wer seine Frau das Schreiben lehrt, ist schlecht beraten: Er gibt einer Schlange noch zusätzliches Gift.«20
Ehebruch des Mannes galt nicht als Scheidungsgrund. (Dieser Grundsatz hielt sich in England noch bis 1923, ein Beleg dafür, wie stark die britische Oberschicht vom Geist der griechischen Klassik durchdrungen war.) Wenn aber eine Frau Ehebruch beging oder vergewaltigt wurde, musste ihr Mann sie verstoßen, sonst wurden ihm seine Bürgerrechte aberkannt. So gesehen waren die Frauen in der ersten Demokratie der Welt schlimmer dran als im autokratisch regierten Babylon. Unter dem 1750 v. Chr. von König Hammurabi entworfenen Gesetzeswerk hatte ein Ehemann, dessen Frau des Ehebruchs überführt worden war, immerhin das Recht, diese zu begnadigen.
Einvernehmlicher Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau eines anderen war in Griechenland ein schwereres Vergehen als die Vergewaltigung derselben. Im Prozess gegen einen Mann, der beschuldigt wird, den Liebhaber seiner Frau ermordet zu haben, liest der Anwalt der Verteidigung aus den Gesetzestexten des Solon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. eine Passage vor, in der es um Vergewaltigung geht:
Daher also, hohes Gericht, war der Gesetzgeber der Meinung, dass der Vergewaltiger eine niedrigere Strafe verdiene als der Verführer: Für Letzteren hat er die Todesstrafe vorgesehen, für Ersteren nur eine Geldstrafe. Er ging davon aus, dass diejenigen, die Gewalt anwenden, von den Personen, gegen die sich diese Gewalt richtet, gehasst werden, während diejenigen, die ihr Ziel mit schmeichelnden Worten erreichen, sich so im Denken der Frauen einnisten, dass die Ehefrauen anderer Männer sich ihnen stärker verbunden fühlen als ihrem eigenen Gatten, so dass der ganze Haushalt in ihrer Gewalt ist und nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, ob der Vater der Kinder der Ehemann oder der Liebhaber ist.21
Der Ehemann verteidigte sich mit dem Argument, es sei sein gutes Recht gewesen, den Liebhaber seiner Frau zu töten, weil er die beiden in flagranti erwischt habe. Wurde eine Frau Opfer einer Vergewaltigung, so hatte sie mit der gleichen Strafe zu rechnen wie eine Ehebrecherin, durfte nicht mehr an öffentlichen Feiern teilnehmen und keinen Schmuck mehr tragen. Wie in fundamentalistischen muslimischen Kreisen unserer Zeit wurde dem Opfer die Schuld für die Vergewaltigung zugeschoben. Sie wurde mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft, ein furchtbares Los in einem so eng gefügten Gemeinwesen wie dem Stadtstaat.22
Solon beschnitt die Freiheit der Frauen noch auf anderen Gebieten: Ihr öffentliches Auftreten bei Beerdigungen, wo ihnen eine Rolle als bezahlte Klageweiber zugestanden wurde, und an Feiertagen wurde gesetzlich geregelt, die Möglichkeit, privaten Reichtum zur Schau zu stellen, eingeschränkt. Sie durften Land weder kaufen noch verkaufen und mussten, wenn sie noch unverheiratet waren und keine Brüder hatten, beim Tod des Vaters dessen nächsten männlichen Verwandten ehelichen. Söhne, die aus dieser Ehe hervorgingen, erbten allen vorhandenen Landbesitz. Auf diese Weise wurden die Frauen zum »Vehikel, durch das der Besitz in der Familie gehalten werden konnte«23. Selbst nach der Eheschließung stand die Frau weiterhin unter dem Einfluss ihres Vaters, der das Recht für sich in Anspruch nehmen konnte, ihre Ehe zu annullieren und sie mit einem anderen Mann zu verheiraten, wenn ihm das vorteilhaft erschien. Einem anderen, ebenfalls Solon zugeschriebenen Gesetz zufolge durfte kein Bürger von Athen einen anderen freien Bürger versklaven (auf Personen, die nicht das Stadtbürgerrecht besaßen, traf das Gesetz nicht zu), mit einer Ausnahme: Ein Vater oder Haushaltsvorstand durfte die unverheiratete Tochter des Hauses in die Sklaverei verkaufen, wenn sie vor der Ehe ihre Unschuld verloren hatte.
Um die Unschuld der »braven« Mädchen vor Aufdringlichkeiten zu schützen, mussten »böse« Mädchen her, die die sexuellen Bedürfnisse der Männer befriedigten. Die Legalisierung staatlicher Bordelle, die mit Sklavinnen und Ausländerinnen besetzt wurden, waren die Folge. Während die braven Mädchen nur einer Kategorie (Ehefrau/Mutter) zuzuordnen waren, gab es bei den bösen Mädchen Abstufungen von der umsorgten Hetäre – der antiken Entsprechung der Kurtisane – bis zur einfachen Hure, die jeder gegen einen geringen Obolus auf dem Straßenstrich in der Nähe der Müllplätze, wo die Menschen ihre Notdurft verrichteten, aufgabeln konnte. Die Sexualität der Prostituierten war eine öffentliche Dienstleistung; sie hatte den Stellenwert einer Kanalisation, über die die körperlichen Begierden der Männer abgeleitet wurden.24