Susanne Kabatnik

Leistungen von Funktionsverbgefügen im Text


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zwischen Wissenschaftler und Virologe lässt sich durch das Konzept der semantischen Relation der Hyperonymie beschreiben: Wissenschaftler ist ein Oberbegriff, ein Hyperonym, zu Virologe (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 112f.), durch das in diesem Beispiel Phorik erzeugt wird. Angezeigt wird die Referenzidentität von der Wissenschaftler mit ein Virologe wieder durch den definiten Artikel der Nominalphrase in Satz 2 der Wissenschaftler (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 56f.; Adamzik 2016: 268, s. Kap. 3.1.1; 4.2.5).

      Bei dem Wiederaufnahmeverfahren der Pronominalisierung wird der eingeführte Textreferent – wie bei der Substitution auch – mit einer anderen sprachlichen Form ersetzt. Im Unterschied zur Substitution geschieht dies bei der Pronominalisierung aber nicht durch andere nominale Elemente, sondern durch Pro-Formen, d.h. durch Pronomina, Pronominaladverbien etc. (vgl. Missing 2017: 59f.):

      1 Heute ist ein Virologe zu Gast (S1). Er spricht über das neue Virus (S2).

      In Beispiel (6) wird der in S1 eingeführte Virologe in S2 durch das Personalpronomen er wiederaufgenommen. Zwischen ein Virologe und er besteht Referenzidentität. Wird ein eingeführter Textreferent durch dieselben oder andere sprachliche Einheiten, wie andere Nomina oder Pronomina, im Folgetext wiederaufgenommen, werden Verkettungen von referenzidentischen Ausdrücken, sog. Koreferenzketten, gebildet (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 112; Hackl-Rößler 2006: 64ff.; Stede 2018: 65; Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 29; Averintseva-Klisch 2018: 33ff.; s. Kap. 3.4; 4.2.5):

      1 Heute ist ein Virologe zu Gast (S1). Der Wissenschaftler spricht über das neue Virus (S2). Er berichtet über den Stand gegenwärtiger Forschung (S3).

      In diesem Beispiel wird der in S1 eingeführte Virologe zuerst durch die Nominalphrase in S2, dann durch er in S3 substituiert, wodurch der Virologe als Thema des Textes weitergeführt wird. Innerhalb der Phorik wird weiter unterschieden, in welcher Verweisrichtung der Bezugsausdruck zum Textreferenten steht. Handelt es sich um einen Rückwärtsverweis, wie z.B. in (7), d.h. wird zuerst der Antezedent eingeführt, auf den sich die Verweisausdrücke danach beziehen, ist die Wiederaufnahmerelation als Anapher zu kategorisieren (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 111f., s. Kap. 3.4; 4.2.5). Die Verweisrichtung im Text kann aber auch umgekehrt ausgedrückt werden, denn ein Personalpronomen kann sich auch auf eine Entität im Text beziehen, die erst im Folgetext spezifiziert wird, vgl. z.B.:

      1 Heute ist er zu Gast (S1). Der Virologe spricht über das neue Virus (S2).

      In diesem Beispiel wird zunächst das Personalpronomen er eingeführt, das sich auf den Virologen in Satz 2 bezieht, d.h. er und der Virologe sind als referenzidentisch zu interpretieren. Durch er wird der Virologe in Satz 2 angekündigt. Zwischen er und der Virologe besteht also die Relation eines Vorwärtsverweises, eine sog. Katapher, die beispielsweise in literarischer Prosa zur Steigerung der Spannung zum Einsatz kommen kann (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 121; Thomsen 1997; s. Kap. 4.2.5.3.2).

      Phorik kann – wie die Konnexion – auch implizit hergestellt werden. Auf der Textoberfläche sind die sprachlichen Einheiten dann nicht sichtbar. Denn der/die Rezipient*in/en erzeugt sie mental, wie z.B.:

      1 In der Sendung heute ist ein Virologe zu Gast (S1). Der Moderator stellt ihn zunächst vor (S2).

      In diesem Beispiel zur impliziten Phorik geht es um den Moderator in Satz 2. Er ist durch den definiten Artikel als bekannt markiert, obwohl er in Satz 1 nicht als neuer Textreferent eingeführt wurde. Dass dieser Text trotzdem als kohärent eingestuft werden kann, liegt an der Verbindung von Moderator und Sendung aus Satz 1 und der damit zusammenhängenden Aktivierung im semantischen Netz (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 118; Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 36f.). Der Moderator wird als Teil der Sendung im semantischen Netz mit aktiviert und dadurch für die Wiederaufnahme erreichbar. Eine Rolle spielt hierbei auch unser Welt- und Erfahrungswissen. Wir wissen in unserem Kulturkreis, dass es in Fernsehsendungen bestimmte Abläufe, Beiträge und Moderator*innen gibt, die nicht gesondert aufgeführt werden müssen, damit der Text verständlich und kohärent ist (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 63f.). Der Text ist demnach unterspezifiziert: Dass es in Sendungen Moderator*innen gibt, wird „mitgedacht“:

      1 In der Sendung heute ist ein Virologe zu Gast (S1). [Die Sendung leitet ein Moderator.] Der Moderator stellt ihn zunächst vor (S2).

      Der Moderator bleibt in (10) auf der Textoberfläche unvorerwähnt, wird aber implizit, also als indirekte Anapher, wiederaufgenommen (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014: 118; Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 36f.).

      Mit Wiederaufnahmerelationen im Text geht die Position von sprachlichen Einheiten einher: Texte und Sätze sind dem Ansatz der funktionalen Satzperspektive nach in bekannte, vorerwähnte, alte Information und nicht bekannte, nicht vorerwähnte und neue Information gegliedert (vgl. Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 44ff.; Gansel/Jürgens 2007: 41). Vorerwähnte Informationen sind thematische Elemente, sog. Themata; neue Elemente bilden das Rhema des Satzes (vgl. Dürscheid 2010: 177; Mathesius 1929: 202–210; Féry/Ishihara 2016: 3f.). Ausdrucksmittel für die Thema-Rhema-Gliederung im Deutschen ist neben der Betonung v.a. die Satz- bzw. Wortstellung: Thematische Elemente stehen linksperipher, rhematische Elemente werden rechtsperipher realisiert (vgl. Schwarz-Friesel/Consten: 104f.; Zimmermann/Féry 2009: 1; Krifka/Musan 2012: 30f.). Durch die Thema-Rhema-Gliederung im Satz können sprachliche Einheiten je nach referentiellem Status unterschiedlich gewichtet und perspektiviert werden (s. Kap. 3.3; 4.2.4), vgl. z.B.:

      1 Zu Gast ist heute ein Virologe (S1). Der Virologe spricht über das neue Virus (S2).

      In Satz 1 wird ein Virologe als neuer Textreferent eingeführt. Die Nominalphrase besetzt die letzte Position im Satz und ist durch den indefiniten Artikel als rhematisches Element markiert. In Satz 2 wird der Virologe zum Thema des Satzes – angezeigt wird dies durch den definiten Artikel und die Position am Satzanfang. Es handelt sich um eine bereits bekannte Information, an die wiederum neue Informationen angeschlossen werden, nämlich, dass der Virologe über ein neues Virus spricht, das in diesem Satz das Rhema bildet. Ein neues Virus bildet in Satz 2 dann das Rhema (vgl. Schwarz-Friesel/Consten: 105). Im Wechsel von neuer und alter Information und der Verknüpfung und Wiederaufnahme sprachlicher Einheiten wird im Text Kohärenz erzeugt, die die Grundlage für gegenseitiges Verstehen und Verständlichkeit bildet (vgl. Schwarz-Friesel/Consten: 70/93/104f.; grammis 2019: Wortstellung und Informationsstruktur)1.

      Funktionsverbgefüge, der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Dissertation, werden in der textlinguistischen Forschungsliteratur zwar thematisiert (vgl. z.B. Panzer 1986, Vigašová 1968, Richter 1988, s. Kap. 1.2.3). Sie werden aber nicht auf Fähigkeiten zur Textverknüpfung oder der Aufbereitung von Informationen im Text untersucht, sondern finden sich v.a. im Bereich der Textsortenspezifik wieder. D.h. Funktionsverbgefüge werden Textsorten, wie z.B. wissenschaftlicher Fachliteratur oder amtlich-offiziellen, bürokratischen Texten, zugeschrieben und bilden Beschreibungsmerkmale für eine bestimmte Textsorte (vgl. Kordić/Marušić 2017). Da Funktionsverbgefüge sowohl aus einem verbalen und nominalen Element bestehen und sich die ausgewählten Gefüge durch einen geringen Grad an Festigkeit und Lexikalisierung sowie Referenzfähigkeit auszeichnen, erscheint es interessant, Funktionsverbgefüge von der Ebene des Textes aus zu betrachten. Für die Textverknüpfung stellen Nomen nämlich strukturell andere Möglichkeiten bereit als Verben, vgl. das folgende Beispiel:

      1 Alle wichtigen Entscheidungen, die eben getroffen wurden und die alle rechtskräftig sind, haben große Tragweite.

      In Beispiel (12) wird das Funktionsnomen von Entscheidung treffen attributiv durch zwei koordinierte Relativsätze erweitert, mit denen die Entscheidung sowohl inhaltlich durch weitere Informationen angereichert als auch anaphorisch im Text weitergeführt wird (vgl. Helbig/Buscha 2011: 89f.; Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 29; Averintseva-Klisch 2018: 33ff.): Im ersten Relativsatz die eben getroffen wurde wird die Entscheidung durch das Relativpronomen die pronominalisiert (s. Kap. 3.1; 4.2.1; 4.2.2), im zweiten Relativsatz durch das Indefinitpronomen alle (vgl. Brinker/Cölfen/Pappert 2018: 29; Schwarz-Friesel/Consten 2014: 55; s. Kap. 4.2.5). Der