Albrecht Greule

Historische Valenz


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(1997, 78‒83) definierte SatzmodellSatzmodellSatzbauplan wie folgt: „Mit Satzmodellen sind syntaktische Grundstrukturen gemeint, die auf der Valenz beruhen und die jedem realisierten Satz zugrunde liegen. […] Es handelt sich also um eine begrenzte Zahl von abstrakten Strukturmodellen, denen alle Verben des Deutschen zugeordnet werden können. Es ist zu beachten, daß ein und dasselbe Verb zu mehreren Satzmodellen gehören kann.“ (Anttila 1997, 78). Bei Anttila werden Satzmodelle, die bei aktivischenaktivisch PrädikatenPrädikat vorkommen, von solchen unterschieden, die bei passivischenpassivisch Prädikaten vorkommen (Anttila 1997, 156). Die für die Satzmodelle konstitutiven (d.h. die obligatorischenobligatorisch und fakultativenfakultativ) SatzgliederSatzglied sind im Satzmodell durch fettgedruckte Abkürzungen der grammatischen Bezeichnungen präsent. Dem Verb danken wird z.B. entweder das Satzmodell sub dat prp mit den Satzgliedern SubjektSubjekt, DativobjektDativobjekt und PräpositionalobjektPräpositionalobjekt (Der Lehrer dankt dem Schüler für die Hilfe) zugeordnet oder das Satzmodell sub dat gls mit den Satzgliedern Subjekt, Dativobjekt und GliedsatzGliedsatz (Der Lehrer dankt dem Schüler, dass er ihm geholfen hat). Man muss beachten, dass Anttila das Satzmodell sub dat gls nicht als Variante bezüglich der Position 3, die meist mit einer PräpositionalgruppePräpositionalgruppe als ObjektObjekt besetzt ist, versteht, sondern als eigenes Satzmodell.

      D. Valenz und Historische Grammatik

      1. Die Satzbaupläne im Zentrum der Syntax

      Um der wichtigsten Aufgabe einer Syntax, nämlich die Satzkonstitution zu beschreiben, gerecht zu werden, bietet die Valenztheorie einen grundlegenden Ansatz an (vgl. Wegstein/Wolf 1982, 113). Die Valenz ist zwar primär ein lexikografisches Phänomen (vgl. Kapitel E). Das zeigt die praktische Umsetzung der Theorie in ValenzwörterbüchernValenzwörterbuch (Helbig/Schenkel 1973; Engel/Schumacher 1976; Schumacher 1986; Sommerfeldt/Schreiber 1996; VALBU 2004; E-VALBU) und deren Einsatz im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht. Im Valenzwörterbuch sind, vereinfacht gesagt, den Verben die Verb-Aktanten-KonstellationenVerb-Aktanten-Konstellation (SatzbaupläneSatzbauplan) zugeordnet, die das Grundgerüst dieses mit einem Verb gebildeten Satzes vorgeben. Ein Thema der Grammatikografie wird die Verbvalenz aber dann, wenn die lexikografische Perspektive umgekehrt wird und ein Verzeichnis der Satzbaupläne erstellt wird, dem – meist wahlweise – die entsprechenden Verben zugeordnet sind. Für die Satzbaupläne der deutschen Sprache der Gegenwart vgl. die Duden-Grammatik (2016, 927‒951); Engel (1988, 185‒218); Helbig/Buscha (2001, 516‒532); Wellmann (2008, 128‒135, 164‒184, 192‒194).

      Als Ordnungsprinzip ist die Valenz bzw. die Satzbauplan-DarstellungSatzbauplan auch in der grammatischen bzw. syntaktischen Beschreibung der historischen deutschen Sprachstufen (Ahd., Mhd., Fnhd.) anerkannt und wird praktiziert (vgl. Greule 1992, 201‒204). Dabei wird von einem hierarchischen Drei-Ebenen-Modell ausgegangen: Auf der Ebene I geht es um die auf den höheren Ebenen II und III als SatzgliederSatzglied fungierenden Wortgruppen; sie werden hier nach Kategorien (Verbgruppe, NominalgruppeNominalgruppe, Präpositionalgruppe)Präpositionalgruppe gesammelt und im Hinblick auf ihre interne Struktur beschrieben. Vgl. die Behandlung der Ebene I bei Schmid (2017, 201‒214). Auf der Ebene II geht es um die Strukturen des EinfachsatzesEinfachsatz. Die Grundlage dafür ist die Typologie der Satzbaupläne, die aus der Valenz der Verben abgeleitet sind. Da die Satzbaupläne stellungsneutral formuliert sind, vgl. das Beispiel (Kapitel C.3): SatzmodellSatzmodellSatzbauplan sub dat prp mit den Satzgliedern SubjektSubjekt, DativobjektDativobjekt und PräpositionalobjektPräpositionalobjekt (Der Lehrer dankt dem Schüler für die Hilfe), muss die Ebene II um eine Beschreibung der möglichen Reihenfolge der Satzglieder, wie sie in den historischen Texten tatsächlich vorliegt, ergänzt werden. Auf der Ebene II muss ferner die Beschreibung des erweiterten Einfachsatzes bedacht werden, d.h., die durch die SatzbaupläneSatzbauplan vorgegebenen Satzstrukturen können in konkreten Sätzen durch „freie“ Satzglieder (valenztheoretisch: AngabenAngabe, Supplemente)Supplement erweitert sein. Vgl. die diachronediachron Behandlung der Ebene II unter dem Titel „Valenz und EinfachsatzEinfachsatz“ mit Beispielen aus Texten der drei deutschen Sprachstufen (Schmid 2017, 185‒201). Auf der Ebene III, der höchsten Ebene, geht es um die Beschreibung der komplexen Sätze in den Formen SatzreiheSatzreihe, SatzgefügeSatzgefüge (mit GliedsatzGliedsatz und AttributsatzAttributsatz) und SatzperiodeSatzperiode. Vgl. die Behandlung der Ebene III bei Schmid (2017, 215‒230) mit Beispielen aus Texten der drei deutschen Sprachstufen. Diese syntaktischen Großstrukturen, die mindestens zwei PrädikatePrädikat aufweisen, müssen bereits im Zusammenhang mit der Segmentierung der Einfachsätze aus den historischen Texten in den Blick genommen werden.

      (Greule 1992, 208‒210)

      2. Von der Textanalyse zur Valenz und zu den Verb-Aktanten-KonstellationenVerb-Aktanten-Konstellation

      Die historische Valenz erfordert – im Unterschied zur Anwendung der Valenztheorie auf die Gegenwartssprache – folgende methodischen Schritte:

       1) Festlegung eines Korpus, das mit einem Text oder allen einer der historischen Sprachperioden zugeordneten Texten identisch ist.

       2) Anwendung der auf den Verbalsatz eingeschränkten Satzdefinition (= Konstruktion aus SatzgliedernSatzglied mit einem PrädikatPrädikat im Zentrum) auf den Text, was zu einer Liste von konkreten Sätzen führt, vgl. die Liste der 88 Sätze, in die das (ahd.) HildebrandsliedHildebrandslied (Greule 1987, 440‒445) eingeteilt wird (zu den Problemen vgl. Habermann 2007, 86).

       3) An die Text-Satz-Segmentierung schließt sich die interpretierende Segmentierung der gegebenen Verbalsätze in SatzgliederSatzglied an.

       4) Den konkret ausformulierten SatzgliedernSatzglied wird jeweils – stellvertretend – ein morphosyntaktischesmorphosyntaktisch Kategorialsymbol zugeordnet, z.B. NGnom für ein Satzglied, das mit einer NominalgruppeNominalgruppe im Nominativ identisch ist (z.B. ahd. fater unser) oder PräpGin für ein Satzglied, das mit einer von der Präposition in eingeleiteten PräpositionalgruppePräpositionalgruppe identisch ist (ahd. in himile).

       5) Die interpretierende Ausscheidung von zusätzlichen SatzgliedernSatzglied (Supplementen, AngabenAngabe) aus der formalisierten Satzstruktur-Beschreibung und die damit einhergehende Feststellung der AktantenAktant (ErgänzungenErgänzung) ermöglicht die Abstraktion eines SatzbauplansSatzbauplan von einem konkreten Satz.

       6) Die Zuweisung der TiefenkasusrolleTiefenkasusrolle zu den als ArgumenteArgument fungierenden ErgänzungenErgänzung ergibt schließlich die aus SatzbauplanSatzbauplan und TiefenkasusrahmenTiefenkasusrahmen bestehende und auf das Verb als PrädikatPrädikat bezogene Verb-Aktanten-KonstellationVerb-Aktanten-Konstellation (VAK) (siehe Kapitel B.2).

      Beispiel: Die dritte Âventiure des NibelungenliedsNibelungenlied (= Korpus) beginnt mit der Zeile (Strophe 44)

       Den herren muoten selten deheiniu herzen leit.

      Die Zeile (44,1) ist mit einem (mhd.) EinfachsatzEinfachsatz identisch. Es handelt sich um eine Konstruktion mit dem PrädikatPrädikat muoten (= 3. Person Plural Präteritum Indikativ des Verbs mhd. müejen ‚bekümmern‘) im Zentrum. Die weiteren (konprädikativen) SatzgliederSatzglied sind: den herren (= Siegfried), selten (‚niemals‘), deheiniu herzen leit (‚irgendwelches Herzeleid‘, Plural). Den Satzgliedern werden folgende Kategorialsymbole zugeordnet: NGakk (den herren) – P (muoten) – Adv (selten) – NGnom (deheiniu herzen leit). Das Adverb selten ist eine zusätzliche, die Zeit betreffende Prädikation und wird ignoriert, so dass der muoten/müejen zugeordnete (zweiwertige)zweiwertig SatzbauplanSatzbauplan (stellungsneutral) lautet: P – NGnom – NGakk. Die Zuweisung der TiefenkasusrollenTiefenkasusrolle erfolgt von der Verbbedeutung her. Die Bedeutung des Verbs mhd. muoten ist ‚Tätigkeit, die einen emotionalen Zustand bewirkt‘ und verlangt ein AgensAgens, das den Zustand bewirkt (im Beispiel abstrakt: deheiniu herzen leit) und ein PatiensPatiens, den ZustandsträgerZustandsträger (den herren).