b) Linguistische Tests können nur beschränkt angesetzt werden.
c) Notwendig ist die Übertragung der gegenwartssprachlichen Kompetenz des Deskribenten auf die gewünschte Sprachstufe (siehe Kapitel D.3).
2.3 Grundsätzliche Unsicherheiten
Indem sie sich mit der historischen ValenzsyntaxValenzsyntax generell kritisch auseinandersetzt, führt MECHTHILD HABERMANN sechs „Unsicherheiten“ auf, die bei der Feststellung der historischen Valenz beachtet werden sollten.
a) Die Unsicherheit bei der Abgrenzung der Sätze: „Uncertainty as to the limits of the clause. Punctuation is often missing as a clause is punctuated according to pauses in speech, hence there are no criteria for identifying the beginning and the end of sentences.“
b) Die Unsicherheit in Bezug auf den Status der Sätze: „Uncertainty as to the status of the clause. Subordinate clauses are, as such, not unequivocally identified in every case, since the end position of the finite verb first appears as a rule in New High German. In addition, many conjunctions can just as well be read as hypotactic subordinators or coordinating elements. […] To sum up: the difference between parataxis and hypotaxis is nowhere as clear and unequivocal as in Modern German.“
c) Die Unsicherheit in Bezug auf den Verbstamm: „For a long time, noun compounds and […] verb compounds were not usually written as one word. With regard to the stem and its valency, it is essential to determine whether Middle High German adverbs such as an, auf, durch, or heran, hinauf, herum have the status of phrases or not and whether, as a consequence, they could be complements or adjuncts; or whether we are dealing with verb particles, and thus with verbs which take a particle“ (z.B. ankommen, aufsteigen, durchfahren).
d) Die Unsicherheit in Bezug auf die morphologische Identifikation der Kasus: „Because of early syncretism of form, especially since Middle High German, certain cases are no longer identifiable. […] It is very risqué to transpose conventional valency schemata of New High German to historical language.“
e) Die Polyvalenz der Verben: „In contrast to New High German verbs, Old and even Middle High German verbs do not have a stable, or should I say prototypical valency. In New High German the meaning of the verb introduces a valency framework which, although it is slightly modifiable, as for instance in the case of optional complements, is quite stable for this particular meaning of polysemic lexemes. A wider range of structures is often recognisable in historical periods of language, so that prototypes cannot easily be defined. Thus here […] historical valency is greatly influenced by co-textual and contextual factors“ (siehe Kapitel D.12).
f) Nachwirkung der indoeuropäischen Kasus-Bedeutungen: „It seems that the meanings of the case in Old and Middle High German are still strongly influenced by their ancient Indo-European meanings […] – Basically, the three morphological cases genitive, dative and accusative can appear as adverbial phrases. The disparity and diversity of meanings of genitive and dative render the assignment of semantic roles difficult.“
(Habermann 2007, 86‒88)
Kommentar: Die vor der Analyse zu bedenkenden Unsicherheiten (a) – (c) betreffen nicht nur die historische Valenzanalyse, sondern syntaktische Analysen und Beschreibungen der Sätze in historischen Texten gleich welcher Art. Bei (a) und (b) kommt man um eine syntaktische Interpretation einer Textstelle nicht herum. Entweder übernimmt sie der Deskribent aus der Edition des historischen Textes (und folgt der Interpretation des Herausgebers) oder er interpretiert unter Beachtung von Textgliederungs-Signalen in der Handschrift die Interpretation selbst. (d) entspricht der Warnung, nhd. SatzbaupläneSatzbauplan auf die historischen Texte einfach zu übertragen. (e) betrifft die bekannte Tatsache, dass vor der grammatischen und lexikalischen Regelung der deutschen Standardsprache sich aus den historischen Texten nicht immer ‒ wie im Nhd. ‒ eine stabilestabil, prototypische Valenz ermitteln lässt (siehe Kapitel D.7). (f) zielt auf die Schwierigkeit des Ansatzes der semantischen RollenValenzsemantische generell und auf die „Ableitung“ der semantischen Rollen aus den morphologischen Kasus (siehe Kapitel B.1).
3. Herausarbeitung der Verb-Aktanten-Konstellationen aus historischen Texten
Die Abstraktion von Verb-Aktanten-KonstellationenVerb-Aktanten-Konstellation (auch SatzmusterSatzmusterSatzbauplan, SatzbaupläneSatzbauplan, SatzmodelleSatzmodellSatzbauplan) (vgl. Kapitel B.2) erfolgte – anders als in der Grammatik der Gegenwartssprache ‒ im Rahmen der historischen Grammatik abhängig von der Methode, unter unterschiedlichen Begriffen und mit unterschiedlicher Markierung (vgl. Kapitel D.5).
Als Erster hat JARMO KORHONEN den Begriff des SatzmodellsSatzmodellSatzbauplan auf die Analyse eines umfangreicheren historischen Textes angewendet. In Korhonen (1978) wurde mit mehreren Arten von Satzmodell operiert: Es wurden zunächst einerseits aktivischeaktivisch und passivischpassivische SatzmodelleSatzbauplanaktivischer (Satzbauplanpassivischermit PrädikatPrädikat in Aktiv-Aktiv bzw. Passivform), andererseits Haupt- und NebenmodelleNebenmodell unterschieden. Zu den HauptmodellenHauptmodell wurden vom PrädikatsverbPrädikatsverb unmittelbar abhängige Elemente (ErgänzungenErgänzung 1. GradesErgänzung1. Grades), zu den Nebenmodellen mittelbar abhängige Elemente (Ergänzungen 2. GradesErgänzung2. Grades) gerechnet. Als ValenzträgerValenzträger der Nebenmodelle fungiert in Korhonen (1978) eine infinite Verbform oder ein prädikativesprädikativ Adjektiv. Die konstitutiven Glieder der Haupt- und NebenmodelleNebenmodell wurden in Bezug auf Form und Funktion beschrieben und mit entsprechenden Symbolen gekennzeichnet, an denen die Wortklasse und die Anschlussart an den Valenzträger bzw. der Satztypus zum Ausdruck kommen (z.B. Nomen im Nominativ als SubjektSubjekt, präpositionales Adjektiv als PrädikativPrädikativ und Nebensatz als ObjektNebensatzobjekt). ObjektDie auf diese Weise entstandenen Kombinationen von Ergänzungen wurden morphofunktionelle SatzmodelleSatzbauplanmorphofunktioneller genannt. In einem weiteren Arbeitsschritt wurden die unterschiedlich ausgeprägten Ergänzungen jeweils zu Gruppen mit gleicher syntaktischer FunktionFunktionsyntaktische zusammengefasst und diese ferner miteinander verbunden, was zur Bildung von SatzgliedmodellenSatzgliedmodell führte. ‒ Zu den verschiedenen Satz- und Satzgliedmodellen vgl. genauer Kapitel D.4.5.
Verb-Aktanten-KonstellationALBRECHT GREULE (1982c) fasste unter dem Terminus SatzformSatzform das formalisierte Ergebnis der Satzglied-AnalyseSatzglied eines konkreten (ahd.) Satzes zusammen. Die Analyse beginnt mit einer Segmentierung des Satzes in Satzglieder, denen Kategorialsymbole zugeordnet werden. Zum Beispiel wurde der ahd. Satz1 aufgeteilt in die Satzglieder: a) drato mihiliu caruni, b) dar inne, c) sint pifangan „sehr große Geheimnisse sind darin eingefangen“ (= SatzmusterSatzmusterSatzbauplan). In der abstrahierten Satzform, die die Reihenfolge der Satzglieder wie im originalen Satz beibehält, sind die Satzglieder durch die Symbole a) NG1 (NominalgruppeNominalgruppe im Nominativ), b) AdvG (AdverbgruppeAdverbgruppe), c) VER (Verb) präsent. Die morphosyntaktischmorphosyntaktisch determinierte Satzform bildet die Grundlage zu ihrer semantischen Interpretation. Im Fallbeispiel sieht die semantisch interpretierte Satzform so aus: a) NG1/Pat – b) AdvG/U:loc – c) VER/P:perf2. Die Satzform ist also noch nicht auf das PrädikatPrädikat und seine ErgänzungenErgänzung reduziert.
LAWRENCE JOHN THORNTON (1984, 77‒117) unterschied, ausgehend vom „Kleinen ValenzlexikonValenzlexikon deutscher Verben“ (Engel/Schumacher 1976), zehn „complement classes“ (E0‒E9), indem er das syntaktische Verhalten von ahd. Verben mit fnhd. Verben vergleicht: E1 ist markiert als Akkusativ, E2 als Genitiv, E3 als Dativ, E4 durch eine Präposition, E5 + 6 als lokale und temporale PhrasenPhrase, E6* durch VerbzusätzeVerbzusatz, E7 ist die „EinordnungsergänzungEinordnungsergänzung“ (z.B. er nennt sie Schätzchen) und E8 sind „Artergänzungen“ (z.B. er nennt sie faul), E9 ist der ErgänzungssatzErgänzungssatz. Dem ahd. Verb geban wird u.a. der SatzbauplanSatzbauplan 013 zugeordnet und durch den Belegsatz (OtfridOtfrid von Weißenburg 1,27,39) gab er mit giwurti in avur antwurti (= P, Nnom, Ndat, Nakk) verdeutlicht. Dem fnhd. Verb geben wird u.a. der Satzbauplan 014 zugeordnet und durch den Belegsatz (LutherLuther, Martin, Jn6.51): welchs ich geben werde fur