Patiens/NGakk
Im konkreten Text des NibelungenliedsNibelungenlied ist das PatiensPatiens topikalisiert (an die Satzspitze gestellt) und der Satzinhalt durch selten in der Bedeutung ‚niemals‘ negiert.
Detaillierter wird die Methode, die vom historischen Text-Korpus zur Valenz, zu den VAK und zu ihrer Präsentation im ValenzlexikonValenzlexikon führt, in Kapitel E (Historische Valenz und Lexikografie) dargestellt.
Alle methodischen Schritte setzen die Existenz einer linguistischen ErsatzkompetenzErsatzkompetenz voraus.
3. Die linguistische Ersatzkompetenz (Prokompetenz)
Die erste kritische Diskussion der Methode, wie man vom historischen Text (= Korpus) zur Valenz eines Verbs und zur Erschließung von Satzmodellen gelangt, fasste Thornton (1984, 113‒219) unter der Kapitelüberschrift „From Corpus to Valence“ zusammen. Die Diskussion mündet schließlich in die Annahme und Forderung einer „linguistischen ErsatzkompetenzErsatzkompetenz“ des Deskribenten ein, die JARMO KORHONEN (1976, 208) wie folgt beschreibt:
Diese Art von Kompetenz bezieht sich […] nur auf die Erkennung, nicht auf die Erzeugung sprachlicher Strukturen. Eine generelle linguistische Kompetenz kann sich der Deskribent einer älteren Sprachstufe dadurch aneignen, daß er die Elemente des ihm vorliegenden Korpus beobachtet und miteinander vergleicht, bis er sie allmählich zu identifizieren lernt. Nachdem dieses Stadium erreicht worden ist, vermag nun der Deskribent die Elemente richtig zu segmentieren und zu klassifizieren. Zur Abgrenzung von ErgänzungenErgänzung und AngabenAngabe ist aber noch eine spezifische (d.h. valenzbezogene) linguistische Kompetenz nötig. Eine solche Kompetenz kann der Deskribent aufbauen, indem er seine Kompetenz der Gegenwartssprache auf die zu erforschende Sprachstufe überträgt und sie noch durch weitere Beobachtungen zur Struktur der betreffenden Sprachstufe erweitert. Die Bestimmung des Unterschieds zwischen Ergänzungen und Angaben kann kaum nur im Rahmen einer morphosyntaktischmorphosyntaktisch orientierten Beschreibung erfolgen; damit eine sprach- und linguistikadäquate Deskription gewährleistet werden kann, müssen auch logisch-semantischeValenzlogisch-semantische Begründungen herangezogen werden. Die spezifische linguistische ErsatzkompetenzErsatzkompetenz ist durch textinterne und -externe Vergleiche zu verstärken, wobei sich die Feststellung der Vorkommenshäufigkeit als ein brauchbares Hilfsmittel erwiesen hat: Elemente, die bei bestimmten Lexemen regelmäßig vorkommen, sind als Ergänzungen zu klassifizieren. Als textexterne Vergleichsbasis kommen sowohl zeitgenössische als auch historische Grammatiken und Wörterbücher in Betracht, wenn sie auch nicht explizit valenzbezogene Informationen enthalten.
3.1 Sprachkompetenz, idealer Sprecher-Hörer und „tote“ Sprachen
Die Frage nach einer „Kompetenz“ des Deskribenten historischer Sprachstufen ist vor dem Hintergrund der Sprachtheorie, die der berühmte US-amerikanische Linguist NOAM CHOMSKY 1965 ausarbeitete,1 zu sehen. Im Mittelpunkt der „generativ“ genannten Theorie steht die Kompetenz des „idealen Sprecher-Hörers“. Das Problem der Kompetenz stellt sich im Falle der Beschreibung der Grammatik „toter“ Sprachen, für die es keinen „idealen Sprecher-Hörer“ mehr gibt, völlig neu. Die Grammatik einer „toten“ Sprache kann ohne „native speaker“ nach den strengen Regeln der generativen Theorie gar nicht beschrieben werden. Es wurde in der Forschung deshalb auch bestritten, dass Linguisten – etwa nach entsprechender Ausbildung – eine Kompetenz für eine nur schriftlich fixierte Sprache besitzen können und wie in der Gegenwartssprache Sätze transformieren und generieren, d.h. neu bilden, können. Jedoch wurde vorgeschlagen, anstatt von einem „idealen Sprecher-Hörer“ für ältere Sprachstufen von einer „idealen Sprachkompetenz der Textschreiber“ auszugehen. Da eine Grammatik als Theorie dieser „idealen Sprachkompetenz der Textschreiber“ zu verfassen auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, wird in dieser Theorie der Deskribent selbst an die Stelle des „native speaker“ gesetzt.
3.2 Die vierfache Kompetenz des Deskribenten älterer Sprachstufen
In der von ROGER G. VAN DE VELDE (1971) vorgetragenen Methodenlehre, die er auf die altfriesische Syntax anwandte,2 werden vier Unterarten der Deskribenten-Kompetenz unterschieden (vgl. Greule 1982a, 73f.):
1) Verstehenskompetenz: Der Deskribent muss über ein semantisch-funktionales Verständnis der vorliegenden Materialien verfügen.
2) Textkompetenz: Der Deskribent muss bei der Lektüre und Interpretation seiner Texte die innersprachlichen, intratextuellen Fragen aufgrund der Kenntnis satz- und textkonstitutiver Regularitäten und aufgrund extratextueller Vorkenntnisse berücksichtigen.
3) Philologische Kompetenz: Der Deskribent muss über paläografische Fähigkeiten sowie kultur-, religions- und rechtsgeschichtliche die Materialbasis betreffende Kenntnisse verfügen.
4) ErsatzkompetenzErsatzkompetenz: Der Deskribent baut sich aus der sprachlichen Erforschung der Materialbasis seine sekundäre Kompetenz auf, die der sprachlichen Intuition des Textschreibers nahekommen sollte.
Die Annahme einer Deskribenten-Kompetenz oder linguistischen ErsatzkompetenzErsatzkompetenz ist für jede Beschreibung einer älteren Sprachstufe, für die es nur schriftliche Sprachdaten gibt, eine unabdingbare Voraussetzung. Ersatzkompetenz steht als Zusammenfassung aller vier prozesshaft erworbenen Unterarten. Aber dieser abgeleiteten, sekundären Kompetenz fehlt aufgrund ihrer Gebundenheit an die geschlossene Materialbasis die Kreativität. Sie ist nicht fähig, im generativen Sinn unendlich viele neue Sätze zu erzeugen und zu verstehen. Wenn der Deskribent dennoch „neue“, in seinem Korpus nicht belegte Sätze versuchsweise bildet, kann es sich dabei nur um Vermutungen handeln. Die Ersatzkompetenz ist einseitig; ihre Fähigkeit besteht im Wesentlichen im Verstehen der im Korpus belegten Sätze, im Erkennen der sprachlichen Strukturen sowie im richtigen Segmentieren und Klassifizieren der im Korpus belegten sprachlichen Elemente.
3.3 Die Ersatzkompetenz als Erweiterung der muttersprachlichen Kompetenz
Der Erwerb der vollständigen ErsatzkompetenzErsatzkompetenz kann mit dem Erwerb einer Zweitsprache verglichen werden und kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Der Erwerb der Ersatzkompetenz kann – als Ausgleich eines sprachlichen Defizits – aber leichter vor sich gehen, wenn die „tote“ Sprache einen historischen Zustand der Muttersprache des Deskribenten oder einer durch den Deskribenten vollständig erworbenen lebenden Zweitsprache darstellt. Bei deutschsprachigen Deskribenten trifft das auf ahd., mhd. und fnhd. Texte als Materialbasis zu. Es wird sogar angenommen, dass der Erwerb der Ersatzkompetenz einer Erweiterung der für die Muttersprache oder eine Zweitsprache der Gegenwart bereits erworbenen Kompetenz gleichkommt. Für das Deutsche formulierte diese Position der Schweizer Sprachwissenschaftler HANS GLINZ (1913‒2008) (Glinz, Deutsche Syntax. 3., durch einen Nachtrag erweiterte Auflage. Stuttgart 1970, 108f., zitiert nach Greule 1982a, 75f.):
Wir sind […] nicht mehr die unmittelbaren Teilhaber der Sprache um 1500, um 1200, um 900 (ja nicht einmal mehr ganz der Sprache um 1800), sondern wir sind die Erben – zwar bevollmächtigte Erben, indem es unsere eigene Vergangenheit ist, aber doch Erben. Das müssen wir im Auge behalten, und wir müssen in unseren Methoden und in den darauf gestützten Aussagen entsprechend vorsichtig sein. So dürfen wir in erster Annäherung durchaus annehmen, daß unsere Vorfahren in ihrer Sprache größtenteils ähnliche morphosyntaktischemorphosyntaktisch Kategorien besessen haben wie wir (etwa Verb, Nomen, Pronomen, Kasus, Numerus usw.) und daß wir also, sobald wir die andersartige Phonomorphie beherrschen, von unserer gegenwärtigen Sprache zunächst zu einem gewissen Vorverständnis der Texte und ihres syntaktischen Baues kommen können. Dann müssen wir aber jederzeit damit rechnen, daß die Kategorien anders gewesen sein konnten, schon in der MorphosyntaxMorphosyntax (z.B. Rolle des Genitivs, kein Plusquamperfekt, kein so deutliches PassivPassiv), und erst recht in der Nomosyntax. […] Dabei wird man […] nicht […] direkt und unmittelbar von den Texten ausgehen können, sondern man wird zum vornherein alle Vorarbeit nützen müssen, die in Grammatiken und Wörterbüchern gesammelt ist. Man wird sie aber kritisch nützen müssen und