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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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Diese Überlieferung scheint gegen Ende des Mittelalters entstanden zu sein und kam der Ars Notoria nahe. Die Schriften des Eremiten Pelagius von Mallorca, die Jean Dupèbe und Julien Véronèse studiert hatten, gehörten ebenso dazu wie The Book of the Sacred Magic of Abra-Melin.84 Wenn wir den Ausnahmefall der Illuminés d’Avignon außen vor lassen, können wir daraus schließen, dass die Wiederbelebung einer lange in Vergessenheit geratenen magischen Tradition im neunzehnten Jahrhundert zu einem Großteil Mathers’ Veröffentlichung zu verdanken war.

      Das Buch Abramelin schrieb einen sechsmonatigen Rückzug in die Einsamkeit vor, welcher von einem System aus Beten und Fasten begleitet war. Es liegt klar auf der Hand, dass diese Form der Praxis für Personen, die ein normales soziales Leben führten, nicht einfach umzusetzen war. Das war bei vielen Mitgliedern des Golden Dawn der Fall. Der interessante Aspekt des Buches Abramelin, der in diesem Kontext, zuerst bei Mathers, auftauchte und dann später von Crowley weiterentwickelt wurde, ist die Identifikation des Schutzengels, wie er darin beschrieben wird, mit dem Gedankenkonzept von einem „Höheren Selbst“ oder dem „Höheren Genius“, wie es sich in der Literatur der Theosophischen Gesellschaft und den Lehren des Golden Dawn findet.85 Offensichtlich ist auch, dass Crowley recht schnell zu dieser Identifikation kam, denn wir finden sie im Text eines magischen Eides, den er 1900 leistete, als er erstmals versuchte, die Handlungen aus dem Buch Abramelin durchzuführen, und kurz vor Beendigung seiner Mitgliedschaft beim Golden Dawn.86 Einen weiteren Hinweis auf diese Identifikation liefert seine Interpretation des Bornless Rituals, das für ihn zum wichtigsten Ritual der Kontaktaufnahme mit dem Höheren Selbst wurde.

      1904 gab Crowley an, von Aiwass The Book of the Law empfangen zu haben, welches in seinem Leben noch eine tragende Rolle spielen würde.87 Das Buch wurde letztlich zur Grundlage für Crowleys neue Religion Thelema. Offensichtlich sah er sich selbst als Verkünder dieser neuen religiösen Offenbarung, die alle bisher existierenden Religionen ablösen sollte. Auf Einzelheiten zu den philosophischen und ethischen Prinzipien dieses Systems möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, weil ich damit zu weit vom Thema dieses Kapitels abschweifen würde;88 die Offenbarung in Kairo sollte jedoch angesprochen werden, da sie wichtig ist, das Wesen von Aiwass zu verstehen. Nahm Crowley Aiwass als seinen Heiligen Schutzengel wahr, so wie er im Buch Abramelin beschrieben steht? Darauf eine eindeutige Antwort zu geben, fällt schwer, da Crowleys Vorstellungen sich diesbezüglich mit der Zeit gewandelt hatten. Als Crowley das Buch empfing, und auch noch in den unmittelbar darauf folgenden Jahren, schien es keinerlei Identifikation von Aiwass mit Crowleys eigenem Schutzengel gegeben zu haben. Wie wir gesehen haben, nahm Crowley Aiwass durchgängig als eine individuelle Persönlichkeit wahr, die vollkommen eigenständig existierte. Aus psychologischer Sicht ist es leicht nachzuvollziehen, warum Crowley von diesem Standpunkt nie abgerückt ist. Wahrscheinlich hatte Crowley Schwierigkeiten mit der Vorstellung, Aiwass einfach als eine Manifestation seiner eigenen Psyche zu begreifen, ob sie nun „das Unbewusste“ (mit psychoanalytischen Worten), das „Höhere Selbst“ (in der Sprache der Okkultisten) oder anders genannt wurde. Dieses hätte in der Tat den religiösen Universalitätsanspruch von Thelema untergraben. Die Quelle der Offenbarung sollte eine metaphysische (oder zumindest übermenschliche) Dimension haben, die von Crowleys individueller Persönlichkeit völlig getrennt war. Wie konnte er behaupten, dass seine Botschaft das Schicksal von Millionen Menschen für die kommenden Jahrhunderte verändern würde, wenn seine letztendliche Quelle einfach sein eigener unbewusster (oder eben höherer) Verstand war? Für Crowley war Thelema eine Botschaft der Götter, die ihm durch ihren auserwählten Boten Aiwass übermittelt wurde. Darum gehörte Aiwass, wie oben erwähnt, zur selben Gruppe von Wesenheiten wie Ab-ul-Diz und Amalantrah und wie die Mahatmas der Theosophischen Gesellschaft.89 Wenn Crowley andererseits aber Aiwass als seinen Schutzengel wahrgenommen hätte, dann hätte er den Empfang von The Book of the Law als das „Wissen um den Heiligen Schutzengel und das Gespräch mit ihm“ interpretiert, wie im Buch Abramelin beschrieben steht. Doch dergleichen hat Crowley nie behauptet. Er interpretierte das Wissen und das Gespräch stets als eine mystische Erfahrung, die ihren Bezugsrahmen in den Lehren des Golden Dawn und in William James’ psychologischen Theorien hatte. Dieses wird verdeutlicht durch die Tatsache, dass Crowley erst im Jahre 1906 angab, des Wissens und des Gesprächs teihaftig geworden zu sein (und den mit dieser Erfahrung einhergehenden Einweihungsgrad erlangt zu haben) – also zwei Jahre nach der Offenbarung des Book of the Law. Das bedeutet, dass er, in seiner eigenen Wahrnehmung, dieses Ziel noch nicht erreicht hatte, da er den Kontakt zu Aiwass nicht als das Wissen um und den Austausch mit seinem Schutzengel deutete. Interessant ist, dass er das Ritual, mit dem er 1906 das letzte Ziel der Magie von Abramelin erreichte, „Augoeides“ nannte – dies ist eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Konstellation von Prinzipien (Heiliger Schutzengel, Höheres Selbst/​Genius, Augoeides, Adonai), die er seit seiner Zeit im Golden Dawn aus unterschiedlichen Quellen zu vereinheitlichen bestrebt gewesen ist.90

      Das Ritual des Augoeides ist deshalb interessant, weil es fast ausschließlich in einem gedachten rituellen Raum durchgeführt wurde.91 Als es während einer langen Chinareise nicht möglich war, einen physischen Ritualraum zu schaffen und die Vorkehrungen zu treffen, die im Buch Abramelin beschrieben sind, beschloss Crowley, nur seine Vorstellungskraft zu gebrauchen. Dazu hielt er sich sorgfältig an die Anweisungen des Buches, nur dass er dabei die Handlungen, die zur Durchführung des Rituals erforderlich waren, wie auch den besonderen Ritualraum, in dem es stattfinden sollte, lediglich visualisierte. In seiner Autobiographie behauptet er, am Ende dasselbe Ergebnis – das Wissen und das Gespräch – erzielt zu haben, als hätte er das Ritual physisch durchgeführt. Es war eine mystische Erfahrung, die von ihm als eine der wichtigsten in seinem ganzen Leben wahrgenommen wurde.

      1929 veröffentlichte Crowley Magick in Theory and Practice, in dem seine Sicht der Magie auf systematische Weise dargestellt wird. Für unser Thema ist interessant, dass wir in diesem Buch eine radikale Neuerung beobachten können, was Crowleys Auffassung vom Heiligen Schutzengel betrifft: er identifiziert diesen plötzlich mit Aiwass. Im Rahmen einer Diskussion über schwarze Magie und die Existenz des christlichen „Teufels“ fügt er in einer Fußnote an:

      „Der Teufel“ ist, historisch betrachtet, derjenige Gott eines jeden Volkes, gegen den eine persönliche Abneigung besteht. Dieses hat zu so viel Gedankenverwirrung geführt, dass DAS TIER 666 es vorgezogen hat, Namen stehen zu lassen, wie sie sind, und lediglich zu verkünden, dass AIWAZ – der solar-phallisch-hermetische „Lucifer“ – Sein eigener Heiliger Schutzengel ist und „Der Teufel“ SATAN oder HADIT in unserem besonderen Stück des Sternenuniversums.92

      Die Gleichsetzung von Aiwass mit Satan ist an sich interessant genug und hat natürlich denjenigen, die Crowley als einen Satanisten betrachten, einige Argumente geliefert.93 Besonders wichtig für uns hier ist jedoch die Änderung der Sichtweise, was den Heiligen Schutzengel betrifft. Wenn Crowleys Schutzengel Aiwass ist und wenn er Aiwass als eine eigenständige Entität annimmt, dann ist der Schutzengel kein höherer Aspekt des „Selbst“, der durch bestimmte magische Techniken oder durch Yoga erweckt werden und zu dem man Zugang erlangen muss. Er ist nicht mehr der „Höhere Genius“ des Golden Dawn. Auf den ersten Blick wird der Grund für diesen Perspektivenwandel nicht klar ersichtlich. Meine Annahme, warum Crowley so tief davon überzeugt war, besteht darin, dass Aiwass nicht auf die gleiche Weise erklärt werden kann, wie die Geister aus dem Lemegeton oder das Höhere Selbst. Crowley fand, dass die völlige Autonomie von Aiwass mit den religiösen Universalitätsansprüchen von Thelema besser vereinbar war. Andererseits blieb das Wissen von und das Gespräch mit dem Heiligen Schutzengel ein individuelles Erlebnis, das hauptsächlich den spirituellen Fortschritt einer einzelnen Person betraf. Aber warum setzte Crowley an einer Stelle dann Aiwass mit dem Schutzengel gleich? Eine mögliche Erklärung liegt in Crowleys persönlicher Entwicklung und in seiner seit den 1910er Jahren wachsenden Überzeugung, dass er der Verkünder einer universellen religiösen Botschaft sei.94 Magick in Theory and Practice ist voll von Bezugnahmen auf The Book of the Law und von Erörterungen thelemischer Prinzipien. Darum ist die Annahme plausibel, dass Crowley es an einem Punkt für nötig befand, Aiwass mit seinem Schutzengel zu identifizieren, weil er sich nun selbst voll in seine Rolle als Prophet und Messias eingesetzt fühlte. Der Mensch Crowley wurde zunehmend durch das Tier 666, den Logos des Äons ersetzt. Alles wurde von da an neu interpretiert und im Rahmenwerk der neuen Religion zusammengefasst.