vorliegenden Abschnitt geht es nun darum, die Mikroprozessebene der Aufgabenqualität näher in den Blick zu nehmen. In Abschnitt 1.1.2 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Wirkung von Aufgabenstellungen im Unterricht von den Qualitäten der einzelnen Aufgaben abhängt. Es wurde ferner die Forderung und Notwendigkeit deutlich, geeignete Instrumente für die Unterrichtspraxis bereitzustellen, um es Lehrkräften zu ermöglichen, eine angemessene, wirkungsvolle Auswahl von Aufgaben für den Unterricht zu treffen und sie bei der Entwicklung von eigenen Aufgabenstellungen zu unterstützen. Auch zeigte sich, dass solche Instrumente in Form von Aufgabentaxonomien bereits vorliegen. Auf Basis der bisherigen Forschungsbefunde wurde das interdisziplinäre Kategoriensystem entwickelt mit dem Ziel, die für die Aufgabentypen des LUKAS-Lernprozessmodells relevanten Merkmale und Merkmalsausprägungen zu beschreiben.
Mit dem interdisziplinären LUKAS-Kategoriensystem können Lern- und Beurteilungsaufgaben qualitativ hinsichtlich ihrer didaktischen Funktion im Lernprozess analysiert und entwickelt werden. Es bestimmt auf der Basis von empirischen und theoretischen Arbeiten aus der Fachdidaktik (vgl. z. B. Abraham & Müller, 2009; Bruder, 2010; Büchter & Leuders, 2005; Köster, 2008), aus der Allgemeinen Didaktik (vgl. z. B. Blömeke et al., 2006; Maier et al., 2013) und aus der aktuellen Unterrichtsqualitätsforschung (vgl. z. B. Hattie, 2013; Helmke, 2009; Meyer, 2004; Wellenreuther, 2004) lernrelevante Merkmalsbereiche kompetenzorientierter Aufgaben. Die entscheidenden Merkmalsbereiche sind die Authentizität, Kognition, Komplexität und Differenzierung von Aufgaben, die im Kategoriensystem in zehn verschiedene lernrelevante Merkmale unterteilt werden (Abbildung 1.8). Die Merkmale ihrerseits können wiederum in drei bis vier Ausprägungen vorliegen. Das Kategoriensystem wurde in einem heuristischen Verfahren entwickelt, die empirische Prüfung des Instruments steht noch aus (vgl. Luthiger, Wilhelm & Wespi, 2014, S. 61).
Im Folgenden werden die lernförderlichen Merkmalsbereiche, die Merkmale sowie deren Ausprägungen beschrieben.
1.4.1 Authentizität
Kompetenzen werden in Situationen mit bestimmten Aufgaben und Anforderungen erworben und können in ähnlichen Situationen wieder zur Anwendung kommen. Kompetenzen sind somit funktional auf Situationen bezogen. Dies hat Konsequenzen für die Gestaltung von Aufgaben, denn
der Aufbau von höheren Kompetenzstufen, die mit Handlungskompetenz und Können verbunden sind, gelingt nur, wenn Wissen stets der Bewährungsprobe erfolgreicher Leistung unterzogen ist. Die Verknüpfung von Wissen und Können darf also nicht auf Situationen »jenseits der Schule« verschoben werden. Vielmehr ist bereits beim Wissenserwerb die Vielfalt möglicher Anwendungs-Situationen mit zu bedenken. (Klieme et al., 2007, S. 79)
Im Zitat wird die Forderung nach authentischen und auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogenen Aufgaben deutlich. Die Lebensnähe ist ein Qualitätskriterium sowohl bei Blömeke et al. (2006) als auch bei Maier et al. (2013, 2010) und seit längerer Zeit eine eigene didaktische Kategorie allgemeindidaktischer Theorien, vergleichbar mit dem Kriterium der Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung bei Klafki (1995).
Reale und lebensweltorientierte Aufgaben sind jedoch nicht per se lernförderlich. Dies zeigen beispielsweise Analysen, die auf Grundlage von Bernsteins bildungssoziologischer Theorie entstanden sind. In diesen Arbeiten wird deutlich, dass lernschwächere Schülerinnen und Schüler mit der hohen Komplexität, die mit authentischen Aufgaben einhergeht, überfordert sein können (vgl. Gellert & Sertl, 2012; Leufer & Sertl, 2010). Auch in Hinblick auf das situierte Lernen wird kritisch angemerkt, dass es ja gerade die besondere Situation des Unterrichts kennzeichne, das situative, reale, lebensnahe und alltagsverknüpfte Lernen zu überwinden (vgl. Terhart, 1999, S. 643). Vor diesem Hintergrund hat eine kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung eine Balance zu finden zwischen dem systematischen Erwerb einzelner Kompetenzaspekte und dem auf den Erwerb mehrerer Kompetenzen zielenden situationsbezogenen Lernen.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen umfasst der Bereich »Authentizität« die folgenden zwei Merkmale: Kompetenzabbild und Lebensnähe.
•Kompetenzabbild (vgl. Flechsig, 2008, S. 254; Lersch & Schreder, 2013, S. 50–51): Mit diesem Merkmal wird erfasst, wie viele (Teil-)Kompetenzen mit einer Aufgabe gleichzeitig entwickelt werden können. Dahinter steht die Überlegung von Lersch und Schreder (2013), dass bei einer kompetenzorientierten Unterrichtsgestaltung Unterrichtseinheiten von ihrem angepeilten Ende her zu denken seien und die anvisierte Zielkompetenz in Teilkompetenzen zu zerlegen sei. Damit können Aufgaben zur Kompetenzentwicklung unterschiedlich vieler Aspekte beitragen, wobei zu beachten ist, dass die Teilkompetenzen so mit Übungs- und Anwendungssituationen komplettiert werden, dass die Gesamtheit der Teilkompetenzen die Zielkompetenz kumulativ aufbaut. Unterschieden werden für dieses Merkmal folgende drei Ausprägungen:
singulär: | Aufgabe, durch die ein Teilaspekt einer Kompetenz in Bezug auf die Realsituation erarbeitet, vertieft, geübt und angewendet wird, zum Beispiel eine Fertigkeit, eine kognitive Fähigkeit, eine personale Fähigkeit |
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additiv: | Aufgabe, durch die mehrere Teilaspekte einer Kompetenz in Bezug auf die Realsituation erarbeitet, vertieft, geübt, angewendet werden |
integrativ: | Aufgabe, durch die möglichst viele Teilaspekte einer Kompetenz in Bezug auf die Realsituation ineinandergreifend erarbeitet, vertieft, geübt, angewendet werden |
•Lebensnähe (vgl. Blömeke et al., 2006, S. 337; Flechsig, 2008, S. 254; Maier et al., 2013, S. 36–37; Maier, Kleinknecht & Metz, 2010, S. 35): Maier et al. (2013, 2010) definieren Lebensnähe als die »Relation zwischen domänenspezifischem Fachwissen und der Erfahrungs- und Lebenswelt der Jugendlichen« und unterscheiden diesbezüglich vier Ausprägungen:
ohne: | Aufgabe ohne Verknüpfung von Fachwissen und Lebenswelt der Lernenden |
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konstruiert: | konstruierte Aufgabensituation in Bezug auf die Lebenswelt der Lernenden |
authentisch: | reale Fremd- und Selbsterfahrungen, die mit den Lernenden in Kontakt gebracht werden |
real: | in der Situation vorhandenes Problem, das gelöst werden muss |
1.4.2 Kognition
Für die Bestimmung der Kognitionsmerkmale dient das zweidimensionale Modell von Anderson und Krathwohl (2001), das zwischen den beiden Bearbeitungsaktivitäten von Aufgaben, der Prozess- und der Wissensdimension unterscheidet. Die Prozessdimension bezieht sich auf die kognitiven Prozesse, die von den Schülerinnen und Schülern bei der Bearbeitung von Aufgaben verlangt werden. Nach Maier et al. (2013, 2010) erweist sich die sechsstufige Differenzierung nach Anderson und Krathwohl (2001) als zu wenig trennscharf, sodass in ihren Überlegungen eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Reproduktion und Transfer bevorzugt wird. In Bezug auf die zweite Dimension, die »Wissensformen«, unterscheiden Anderson und Krathwohl (ebd.) zwischen dem Faktenwissen, dem konzeptuellen Wissen, dem prozeduralen Wissen und dem metakognitiven Wissen. Eine analoge Unterscheidung findet sich sowohl im Kategoriensystem von Maier et al. (2013, 2010) als auch bei Astleitner (2006). Von Interesse ist im Weiteren die Art und Weise, wie in Aufgaben mit den kognitiven Konstrukten der Schülerinnen und Schüler umgegangen und gearbeitet wird.
Diese Überlegungen legen nahe, für den Bereich »Kognition« drei Aufgabenmerkmale festzulegen, die der Arbeit an (Prä-)Konzepten, an der Wissensart und am kognitiven Prozess dienen.
•Arbeit an (Prä-)Konzepten (vgl. Beerenwinkel, Parchmann & Gräsel, 2007, S. 9–10): Kompetenzen werden auf der Grundlage vorhandener Vorstellungen aufgebaut. Deshalb ist es für die Lehrkraft wichtig, analysieren zu können, wie die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Inhalt zum Ausgangspunkt des Lernens genommen werden können. Vorstellungen sind kognitive Konstrukte, die zur Deutung der Erfahrungen heranzogen werden. Die Lernenden interpretieren Neues im Unterricht aus der Perspektive des Vorhandenen. Deshalb haben Aufgaben – und hier insbesondere die Lernaufgaben – an das vorhandene Wissen und Können der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen: