Rudi Keller

Zeichentheorie


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Den kommunikativen Aspekt der Sprache und den repräsentativen haben wir nun erörtert. Worin besteht der klassifikatorische? Man kann – grob gesprochen – zwei Thesen unterscheiden, die beide Kinder mit Bädern ausschütten. Die naiv realistische These besagt: Die Dinge sind so, wie sie sind, „bei allen Menschen dieselben“, wie Aristoteles sagte, und die Sprache dient lediglich der AbbildAbbildung. Dieser Theorie gemäß kommt der Sprache eigentlich keine klassifikatorische FunktionFunktion zu. Die Welt trägt ihre KlassifikationKlassifikation bereits in sich. PlatonPlaton scheint eine „Zwischenlösung“ zu präferieren: Die Dinge sind so, wie sie sind, aber wenn der kluge Wortbildner die Wörter nicht mit natürlicher Richtigkeit ausgestatten hätte, sodass sie die natürlichen KategorieKategorien auch korrekt wiedergeben, bekämen wir wohl einen falschen Eindruck von der Beschaffenheit der Dinge dieser Welt.

      Die komplementäre Auffassung ist ebenso naiv. Man könnte sie den naiven Relativismus nennen. Sie lässt sich in etwa wie folgt formulieren: Wir sehen die Welt ausschließlich durch die Brille unserer Sprache. Die Realität ist „immer schon“ eine sprachlich vermittelte. Die Frage, ob es die Kategorien, die wir durch unsere Sprache wahrnehmen, wirklich gibt, ist unangemessen. Denn jede Antwort, die wir geben können, können wir nur wieder in einer Sprache geben, in der Kategorien vorgegeben sind.

      Wer hat recht? Vertreter der zweiten Klasse von Theorien würden natürlich auch diese Frage als naiv ablehnen: Da unsere Welt „immer schon“ eine sprachlich vermittelte ist, trifft dies auch auf die Kategorien zu, mit denen wir diese Frage diskutieren. Wenn also der naive Relativismus wahr ist, ist er unbestreitbar. Das allerdings macht diese Theorie nicht stärker. Beide Ansichten sind, wenn sie fundamentalistisch vorgetragen werden, unangemessen, aber beide haben auch einen wahren Kern. Diesen herauszufinden ist eine empirische Aufgabe, der man sich durch Sprachvergleich, durch wahmehmungspsychologische Tests sowie durch sprachhistorische Überlegungen nähern kann.

      Das wurde verschiedentlich getan.3 Am bekanntesten sind vielleicht die Untersuchungen von BerlinBerlin und KayKay4Berlin sowie Kay und McDaniel5 zu den Farbkategorien geworden. Diese Untersuchungen haben gezeigt, dass die Farbkategorien, die durch die Grundfarbwörter einer Sprache vorgegeben sind, in Art und Anzahl erheblich variieren können, dass es aber dennoch Gemeinsamkeiten gibt. Sprecher unterschiedlicher Muttersprachen geben ungeachtet der Farbkategorisierungen, die in ihrer Sprache vorgegeben sind, erstaunlich übereinstimmende Urteile darüber ab, was jeweils ein typischer Vertreter einer bestimmten Farbkategorie ist. Die Übereinstimmungen sind offenbar durch die Physiologie menschlicher Farbwahrnehmung bestimmt. Es gibt Farben, die „in die Augen springen“.

      Auch die Untersuchungen zu den sogenannten basic-level categoriesbasic-level categories6BrownLakoff – auf deutsch könnte man sie Grundkategorien nennen – machen deutlich, dass es bei allen sprachspezifischen Unterschieden der Kategorienbildung universale Tendenzen gibt. Wenn wir uns Kategorienhierarchien ansehen, wie z.B. ‚Rauhaardackel‘, ‚Dackel‘, ‚Hund‘,‚Haustier‘, ‚Säugetier‘, ‚Lebewesen‘ oder ‚Ulme‘, ‚Baum‘, ‚Laubbaum‘, ‚Pflanze‘, ‚Lebewesen‘ oder ‚Zimmermannshammer‘, ‚Hammer‘, ‚Werkzeug‘, so zeigen sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen, dass jeweils eine Kategorie der mittleren Ebene als die zentrale angesehen wird: in unserem Falle ‚Hund‘, ‚Baum‘ und ‚Hammer‘. Kinder lernen diese Wörter früher als die anderen, und wenn eine Sprache nicht über sprachliche Zeichen für alle die Kategorienstufen verfügt, so doch immer am ehesten für die GrundkategorieGrundkategorie.

      Beide Beispiele, das der Farbkategorien wie das der basic-level Kategorienbasic-level categories, machen deutlich, dass die Kategorisierungen einerseits von Sprache zu Sprache in Art und Anzahl zwar erheblich variieren können, aber andererseits nicht ganz beliebig zu sein scheinen. Das kann verschiedene Gründe haben. Zum einen können Aspekte der Biologie des Menschen unmittelbar eine Rolle spielen, wie beispielsweise die Neurophysiologie der menschlichen Farbwahrnehmung, zum andern können Gemeinsamkeiten menschlichen Umgangs mit der Welt dafür verantwortlich sein. Menschen haben bei allen kulturellen Verschiedenheiten gemeinsame Wünsche, gemeinsame Bedürfnisse und gemeinsame Probleme zu lösen. Dies schlägt sich in der Sprache und ihren Kategorisierungen ebenso nieder wie ihre kulturspezifischen Besonderheiten. Die Kategorien ‚Baum‘, ‚Hund‘ und ‚Hammer‘ betreffen unser Leben unmittelbarer als etwa ‚Pflanze‘, ‚Säugetier‘ und ‚Werkzeug‘. Wenn wir in einem Spiel vor die Aufgabe gestellt würden, Kategorien pantomimisch darzustellen, fiele uns die Darstellung von ‚Hammer‘, ‚Hund‘ und ‚Baum‘ erheblich leichter als die Darstellung von ‚Zimmermannshammer‘, ‚Dackel‘ und ‚Eiche‘ oder von ‚Werkzeug‘ ‚Tier‘ und ‚Pflanze‘. Es ist gleichsam die mittlere Ebene der Relevanz zwischen begriffBegrifflicher Mikroskopie und Makroskopie. Unsere Kategorien sind interaktiver Natur. Sie sind Ergebnisse soziokultureller EvolutionEvolution. Die Entwicklung der Sprache ist ein Teil und ein Spezialfall derselben. „The categories into which we divide nature are not in nature, they emerge solely through the interaction between nature and ourselves“, schreibt Derek BickertonBickerton.7 Es ist ein konstitutives Merkmal (wenn auch kein notwendiges) evolutionärer Prozesse, adaptiv zu sein. Dies gilt auch für Prozesse sprachlicher Evolution. Sprachliche Ausdrücke – und mit ihnen die durch sie erzeugten begrifflichen Kategorien –, die sich im Zuge unserer praktischen, geistigen und kommunikativen Auseinandersetzung mit der Realität als im weitesten Sinne geeigneter erweisen als potentielle Alternativen, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit beibehalten, d.h. weiterverwendet und somit gelehrt und gelernt, als die weniger tauglichen. Informationen über die Realität werden so von Generationen von Sprachbenutzern gleichsam in die Sprache eingebaut.

      Da in der Sprache kulturelles Wissen über die Realität gespeichert ist, steht sie zu „ihrer“ Realität trivialerweise in einem gewissen AbbildAbbildungsverhältnis. Dies lässt sich an den folgenden Beispielen nichtsprachlicher adaptiver Evolutionsprozesse verdeutlichen. Die Form des Fisches ist das genetisch gespeicherte Ergebnis der Erfahrungen von Millionen seiner Vorfahren mit der Hydrodynamik des Wassers. In diesem Sinne ist die Form eines Fisches eine Abbildung der Struktur des Wassers. Die Form der Kelle eines Maurers ist das kulturell gespeichert Ergebnis von Erfahrungen, die Tausende von Generationen von Maurern im Zuge der Ausübung ihres Handwerks gemacht haben. „And, once a more efficient tool is available, it will be used without our knowing why it is better, or even what the alternatives are.“8 In diesem Sinne ist die heutige Form der Maurerkelle eine Abbildung der Tätigkeit des Mauerns. In genau diesem Sinne sind auch die durch die GebrauchsregelGebrauchsregeln unserer Sprache geschaffenen Kategorien unseres Denkens Abbildungen der Realität. Adaptivität ist Speicherung erfolgreichen Erfahrungswissens über die Realität. „Cultural evolution can be regarded as a process of ‚collective learning‘ in the sense that it consists in the transmission and accumulation, from generation to generation, of knowledge and experience.“9Vanberg

      Der Gedanke der Adaptivität setzt voraus, dass wir eine Wirklichkeit akzeptieren, die unabhängig von Sprache und Wahmehmung ist. Wenn unsere Form der Wahrnehmung Ergebnis evolutionärer Anpassung ist, muss es etwas geben, an das sich unsere Wahmehmung angepasst hat. Konrad LorenzLorenz hat diese erkenntnistheoretische Position hypothetischen Realismus genannt.10Lorenz Die Sprache jedoch passt sich nicht nur, wie der Fferdehuf an die Steppe, an die Welt der Dinge an, sondern auch an soziale Realitäten, in denen Bewertungen eine große Rolle spielen. Dass sich das mittelalterliche Anredesystem ir – du, das der Markierung sozialer Hierarchie diente (hoch – tief), zu dem System Sie – du gewandelt hat, das – grob gesagt – der Markierung von Distanz und Vertrautheit dient (nah – fern), ist ein Prozess der Adaption, aber nicht an die Welt der Dinge, sondern an die Welt der Werte. Dass wir ‚rot‘ und ‚grün‘ unterscheiden, scheint eine AnpassungAnpassung an unseren Wahrnehmungsapparat zu sein, dass wir ‚Mord‘ und ‚Totschlag‘ unterscheiden, ist eine Anpassung an unsere rechtlichen Bewertungen, dass wir ‚Stuhl‘ und ‚Hocker‘ unterscheiden, ist eine Anpassung an unsere Alltagslebensform.

      „BegriffBegriffe sind sprachliche Werkzeuge des Denkens.“11Feilke Sie sind die geistigen Korrelate unserer GebrauchsregelGebrauchsregeln und werden im Allgemeinen von diesen erzeugt. Ich will versuchen, den Zusammenhang von Typen von Gebrauchsregeln und Typen von Kategorien darzulegen.

      Die