Ära (d.h. etwa seit dem 2. Jh. unserer Zeit) kein herausragendes Ansehen, sie gelten zwar als integraler Teil, doch nicht als Zentrum der Halacha, der Wegweisung Gottes für sein Volk Israel.
In der christlichen Tradition kommt dem Dekalog demgegenüber eine besondere Rolle zu: So ist er, vermittelt über seine Wertschätzung bei Augustinus und Thomas von Aquin, Teil jener Beichtspiegel geworden, die der institutionalisierten Gewissenserforschung in der römisch-katholischen Kirche seit dem Mittelalter zugrunde liegen, und bildet das „erste Hauptstück“ des Kleinen Katechismus Martin Luthers (1529). Auf diese Weise sind die Zehn Gebote seit Jahrhunderten Memorierstoff und Verhaltensorientierung. Gemeinhin gelten sie als der Teil des ATs, der auch im Licht des Neuen zu beachten ist: So gehört |132|es beispielsweise für zwei Drittel der Kirchenmitglieder „unbedingt zum Evangelischsein, dass man nach den zehn Geboten lebt“.[1]
Darüber hinaus ist der Dekalog in das kulturelle, moralische und juristische Erbe des Abendlandes eingegangen. Kulturell, insofern Literatur, kirchliche Kunst, Film den Dekalog immer wieder aufgreifen[2] und die zwei Tafeln des Bundes zum ikonografischen Programm der Kunstgeschichte gehören;[3] moralisch, insofern die so genannte „zweite Tafel“ (vom Mord- bis zum Begehrensverbot) bis heute allgemeine Geltung als Verhaltensrichtschnur beanspruchen kann; juristisch, insofern seine Regeln (vom Sabbatgebot an) auch ins Recht vieler Staaten Eingang gefunden haben – auch wenn beispielsweise strittig ist, ob und in welchem Maße die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948) genetisch auf die Zehn Gebote zurückgreift.
Zum Dekalog im biblischen Kontext
Die beiden alttestamentlichen Überlieferungen des Dekalogs unterscheiden sich in ihren Kontexten, in Details des Wortlautes und in einigen theologischen Pointen – etwa in der Begründung des Sabbatgebots aus Schöpfung (Ex 20,11) oder Exodus (Dtn 5,15Dtn 5,15).[4] Anzahl und Reihenfolge der Gebote sind innerbiblisch gleich.
In Ex 20 ist der Dekalog in einen Erzählzusammenhang eingebettet: Nach dem eigentlichen Auszug aus Ägypten treffen die Israeliten in Ex 19,1 am Berg Sinai ein. Bei allem, was dort geschieht, wird Mose als der einzige Zeuge von Gottes Theophanie und einzig autorisierter Mittler der Worte Gottes beschrieben. Ex 20,2–17 ist – ebenso wie das sog. Bundesbuch (Ex 20,22–23,33Ex 20,220096>23,33) – in diese Erzählung eingefügt, ohne dass sein Text dicht mit dem Kontext verwoben wäre. Der Dekalog wird demnach mündlich mitgeteilt; erst Ex 24,4 und erneut 34,28Ex 34,28 ist von einer Niederschrift auf steinernen Tafeln durch Mose – nach Ex 31,18 und 32,15 f.Ex 32,15f. durch Gott selbst – die Rede.
Dtn 5 ist demgegenüber weniger erzählend angelegt. Demnach befinden sich die Israeliten bereits im Land östlich des Jordans. Hier wiederholt Mose, was Gott ihnen durch ihn bereits am Horeb (= Sinai) gesagt und auf zwei steinerne Tafeln geschrieben hatte (V. 5Dtn 5,5 und V. 22Dtn 5,22). In Dtn 6–9Dtn 60096>9 folgen weitere Weisungen; Dtn 10,1–5Dtn 10,10096>5 berichtet, dass Mose auf Geheiß Gottes erneut steinerne Tafeln |133|anfertigt, auf die Gott genau „die Worte [schreibt], die schon auf den ersten [Tafeln] waren“.
Ungeachtet der unterschiedlichen Kontexte ist es für beide Dekalog-Fassungen charakteristisch, dass Mose es ist, der sie mitteilt, dass aber zugleich Gott selbst sie mit einer Selbstvorstellung, Erinnerung und Anrede eröffnet. Im Dekalog wendet sich Gott persönlich („Ich bin JHWH“) an die Israeliten („Dich“); er weist sich aus als der, der sie zuvor aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat (Ex 20,2Ex 20,2; Dtn 5,6Dtn 5,6). Mit dieser Präambel sind entscheidende Vorzeichen gesetzt. Erstens: Die Zehn Worte sind keine allgemeine Weisung für alle Welt, sondern haben ihren originären Platz in der Zwiesprache zwischen Gott und „ganz Israel“ (Dtn 5,1Dtn 5,1), de facto also ursprünglich wohl den männlichen, kultfähigen Israeliten. Zweitens: Indem Gott sich als der vorstellt, den man nicht sehen kann (und von dem man sich kein Bild machen soll), erweist er sich als frei und souverän; als solcher befreit er auch die Israeliten und stiftet einen „Bund“ (Ex 19,5Ex 19,5) – der Gott des Dekalogs ist demnach kein Herrscher, der eine irdische Hierarchie legitimiert und stabilisiert, er ist ein freier Befreier. Drittens: Bevor Gott Weisungen gibt, hat er den Israeliten bereits Gutes getan: Er hat sie befreit. Es handelt sich also um Regeln, die helfen sollen mit geschenkter Freiheit umzugehen – der Dekalog ist nicht „die Summe […] einer alttestamentlichen […] Ethik“.[5] Viertens: So unverwechselbar und persönlich Gott sich vorstellt, so wichtig ist ihm, dass Israel ihn fortan nicht verwechselt – weder mit anderen Göttern noch mit Bildnissen – und dass Israel sich nicht willentlich von ihm abwendet – weder durch Verehrung anderer Götter noch durch missbräuchliche Inanspruchnahme seines Namens. Fünftens: Gott ist ein bestimmter Gott, aber er verlangt im Dekalog keine bestimmte Form des Gottesdienstes. Vielmehr finden sich lediglich (die) vier (soeben genannten) Kultverbote und dann sechs im menschlichen Zusammenleben zu bewährende Ge- und Verbote, die jeder einzelne (!) Israelit befolgen sollte. Der Dekalog ist kein Kult-, aber auch kein Sozialgesetz, sondern „ein Minimalkatalog der Grenzen, deren Überschreitung die bestehende Beziehung [zu Gott] aufheben würde“.[6]
Im Vergleich zu anderen altorientalischen Gesetzestexten sind es nicht die ethischen Gebote, sondern das Monolatrie-Gebot, das Idolatrie-Verbot sowie die Gebote der Namens- und Sabbatheiligung, die als „differentia specifica“ des Dekalogs gelten können.[7]
Zum Dekalog in jüdischer und christlicher Tradition
Sowohl im Judentum als auch im Christentum ist der Dekalog immer wieder memoriert, befolgt und interpretiert worden.
|134|Im vorrabbinischen Judentum wurde er in der Zeit des zweiten Tempels täglich verlesen und wohl auch in den Mesusot erinnert, doch seit dem ausgehenden 1. Jh. haben die Zehn Worte, wohl in Reaktion auf deren Wertschätzung im jungen Christentum, diesen prominenten Platz verloren[8] – erst im Reformjudentum der Moderne gewinnen sie ihn zurück. Unbeschadet dessen kommt der Dekalog im einjährigen Turnus der Toralesungen an zwei Sabbat-Tagen (Paraschot „Jitro“ = Ex 18,1–20,23Ex 18,10096>20,23, und „Wa-Etchanan“ = Dtn 3,23–7,11Dtn 3,230096>7,11) zur Sprache; auch beim Schawuot-Fest (Wochenfest; Feier der Gabe der Tora am Sinai) spielt er die Schlüsselrolle.
Wiederkehrend wurde und wird der Dekalog als Bündelung aller 613 Ge- und Verbote des Judentums verstanden – etwa bei Philo, Saadja Gaon und Jehuda Ha-Levy. Allerdings beharrte das (orthodoxe) Judentum stets auf der Gleichwertigkeit und dem Verpflichtungscharakter aller „Mitzvot“ (= Ge- und Verbote) – so etwa bBerachot 12a, Maimonides oder Samson Raphael Hirsch.[9]
Im Christentum wird demgegenüber, beginnend mit dem Neuen Testament, nahezu durchgängig ein detailliertes Befolgen der alttestamentlich überlieferten, namentlich von den Pharisäern systematisierten und aktualisierten Gebote problematisiert. Durch ein Gefüge aus Toraverschärfung (etwa in der Bergpredigt) und Toraentschärfung (etwa in Mk 7par) sowie durch Konzentration auf das Doppelgebot der Liebe, also auf Gottes- und Nächstenliebe (siehe Mk 12,28–34 par; Mt 5,17; Gal 5,14), wird vielmehr ein grundlegender Richtungssinn der Gebote des Gottes Israels profiliert: Sie dienen dem Leben und den Lebenden. In der Verkündigung Jesu und in der Theologie des Paulus ist dies angelegt.[10]
Sind die neutestamentlichen Beiträge zu dieser Frage cum grano salis noch als Teil des innerjüdischen Diskurses zu verstehen, geht dieser Grundton der Verbundenheit und Sympathie mit dem Judentum schon bald verloren – die heidenchristliche Mehrheit der Kirchenmitglieder ist durch das sog. Aposteldekret (Apg 15) vom Gehorsam den meisten Geboten gegenüber entbunden.[11] |135|Darüber hinaus gehend findet sich – zurückgreifend auf einschlägige Passagen des NTs (etwa bei Paulus: Gal 3,10–14, Joh oder Hebr) – von den Kirchenvätern angefangen bis hinein in verschiedene spätere theologiegeschichtliche Epochen (etwa bei Luther, Schleiermacher oder Barth) häufig eine negative oder sogar pejorative Beschreibung dessen, was das Gesetz bedeutet, nicht selten gepaart mit einer Gegenüberstellung von „Gesetz und Evangelium“ (in der sich ein überbietender Blick des Christentums auf das Judentum spiegelt).[12] Allerdings steht bei all dem bemerkenswerter Weise nicht der Dekalog als