Christoph Barmeyer

Konstruktives Interkulturelles Management


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und Komplexitätsreduzierung ermöglicht (D’Iribarne 1994, 92).

      Kultur bildet sich in spezifischen Sozialisationskontexten heraus (Durkheim 1911; Parsons 1937, 1952). Dabei geht es nicht darum, Kultur essentialistisch oder deterministisch auf eine Nation oder Ethnie zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, einen bestimmten Erfahrungsraum zu erfassen, in dem Menschen durch Sozialisation und Enkulturation prägende Lebenserfahrungen machen, d. h. in welchen Räumen und zu welcher Zeit unter welchen Bedingungen Werte und Normen vermittelt und aufgenommen werden, sowie Bedeutungen und (Verhaltens-)weisen/Praktiken beobachtet und erlernt werden. Diese konstituieren ein emotionales und kognitives System, das unbewusst als Haltungen, Lebensregeln und Werte gespeichert wird (Kluckhohn/Strodtbeck 1961; Hofstede 2001; Inglehart/Welzel 2005; Schwartz 2011).

      Vorstellungen über Vertrauen, Freiheit, Gleichheit, Unterordnung oder ›richtigem‹ Verhalten in Arbeits- und Führungssituationen sind Ergebnisse der Sozialisation (Baumgart 2008). Diese vollzieht sich in familiären und persönlichen Institutionen, wie Eltern, Großeltern, Freunde sowie in öffentlichen Institutionen, wie Kindergarten Schule oder Hochschule (Barmeyer 2000). Gegenüber kurzfristigen Veränderungen weisen diese Institutionen eine relative Kontinuität und Stabilität auf (Elias 1979; Ammon 1989).

      Der Einfluss des Bildungssystems ist in bestimmten Gesellschaften bedeutend: Schule und Hochschule sind zentrale Orte der Sozialisation, an denen in der Gemeinschaft Wissen erworben sowie Normen und soziales Verhalten erlernt werden (Johnson/Tuttle 1989). In diesem zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen findet zwischen Akteuren Kommunikation und Interaktion statt, es werden also Denk- und Verhaltensweisen, die etwa Autoritäten oder Problemlösungsstrategien betreffen, konditioniert, die für die jeweilige Gesellschaft charakteristisch sind. Aus den vielen Stufen des Bildungssystems wird exemplarisch die frühkindliche herausgegriffen, da davon ausgegangen wird, dass das Individuum in dieser Phase eine besondere kulturspezifische Prägung erfährt (Hofstede 1980).

      Bildungssystem: ›Kindergarten‹ versus ›Ecole maternelle‹

      »Im Rahmen des Sozialisationsprozesses wird Sozialverhalten und Autoritätsverständnis in Kindergarten und Ecole Maternelle erlernt. Die Bezeichnungen geben hierüber Auskunft: Die Ecole Maternelle ist eine ›Schule‹, also eine Institution, die dem französischen Bildungsministerium untersteht und landesweit Wissen (Mathematik, Sprechen, Lesen und Schreiben, Malen) vermittelt, auch wenn es spielerisch geschieht. Tagesablauf und Aktivitäten werden durch die Institutrice, die Erzieherin, strukturiert. Sie stellt eine personalisierte Autorität dar, die über das Sozialverhalten der Kinder ›wacht‹ und gegebenenfalls regulierend eingreift. Die Förderung intellektueller Leistung, auch durch Noten, führt zu individualistischem Konkurrenzverhalten. In der deutschen Bezeichnung Kindergarten steht das ›Kind‹ im Vordergrund, das im ›Garten‹, einem privaten oder halbprivaten Raum Zeit verbringt. Das Kind hat Gelegenheit mit seinesgleichen in Gruppen zu spielen, Regeln und Verhaltensweisen in der Gemeinschaft, als in einer Art soziales Laboratorium, zu erproben, auszuhandeln und sich zu integrieren. Deutsche Kinder entdecken somit spielend Freiheit und Grenzen in der Gruppe. Lernprozesse finden spielerisch und vor allem freiwillig ohne die Regulierung einer übergeordneten Autorität statt. Anders als das französische Kind, das den ganzen Tag in ein institutionelles System eingebunden ist, kann das deutsche Kind seine Zeit relativ eigenverantwortlich einteilen, um z. B. Aktivitäten in frei gewählten Gemeinschaften nachzugehen.«

      Quelle: (Barmeyer 2013, 277)

      Kultur, entstanden und entwickelt in Sozialisationskontexten, berücksichtigt auch multiple Kulturen und Identitäten. Denn bikulturelle Menschen haben verschiedene kulturelle Orientierungssysteme verinnerlicht (Brannen/Thomas 2010), weil sich ihre prägenden Sozialisationskontexte etwa durch Migration verändert haben oder weil sie durch unterschiedliche Sozialisationskontexte geprägt wurden, etwa weil ihre Eltern und das gesellschaftliche Umfeld kulturell unterschiedlich sind.

      Drei komplementäre Kulturkonzepte

      Im Folgenden werden drei komplementäre Kulturkonzepte präsentiert (Tab. 16), die sich in der Interkulturellen Managementforschung und -praxis zur Analyse bewährt haben (Barmeyer 2011b). Sie lassen sich mit den von Sorge (2004a) dargestellten drei Ansätzen (Kulturalismus, Symbolischer Interaktionismus und Institutionalismus) der kulturvergleichenden Organisationsforschung zuordnen.

Kultur alsAusrichtungAnsätze
1. Wertesystem, das Denken, Fühlen und Handeln beeinflusstNormativ: Was wird als gut und böse, richtig und falsch, erstrebenswert und verwerflich, etc. erachtet?Kulturalismus
2. Referenz- und Bedeutungssystem, das sinnvolle Interpretationen der Wirklichkeit ermöglichtInterpretativ: Welche Bedeutung haben Praktiken und Artefakte und welche Interpretationen werden ihnen zugeschrieben?Symbolischer Interaktionismus
3. System der Problembewältigung und Zielerreichung, das bestimmte Lösungen bevorzugt und integriertAktionsorientiert: Wie werden Herausforderungen angegangen, Probleme gelöst und Ziele erreicht?Institutionalismus

      Kultur als Wertesystem

      Einen besonderen Stellenwert nehmen Werte ein. Sie beeinflussen menschliches Verhalten, auch Arbeits- und Organisationspraktiken (Smith et al. 2002). Samovar und Porter (1991, 15) definieren Werte als »a set of organized rules for making choices, reducing uncertainty, and reducing conflicts within a given society. Cultural values also specify which behaviors are important and which should be avoided within a culture.« Werte sind erlernte, kulturrelative, wünschenswerte Leitvorstellungen, Handlungsprinzipien und verhaltenssteuernde Entscheidungsregeln (Parsons 1952). Häufig handelt es sich um ethische, religiöse oder humanistische Leitbilder einer Gesellschaft, wie z. B. Sicherheit, Fleiß, Ordnung oder Pflichterfüllung (Weber 2006). Werte beeinflussen und organisieren als Maßstäbe und Präferenzen das Verhalten, werden also in sozialen Interaktionen sichtbar und bringen Vorstellungen über ›richtige‹ bzw. wünschenswerte Formen des Zusammenlebens zum Ausdruck (Genkova 2012).

      Werte werden jedoch nicht als verhaltensdeterminierende Einengungen verstanden, sondern vielmehr schlagen sie Lösungen und Verhaltensweisen vor, die sich bewährt haben (Inglehart et al. 2005). Jedoch verändern sich Werte langsamer als Institutionen und Strukturen und können eine hohe Kontinuität aufweisen (Münch 1986). Werte beeinflussen wiederum Strukturen und Institutionen (Braudel 1990; Todd 1990; Whitley 1992b).

      Verschiedene internationale Studien erheben vergleichend Werte und Wertewandel, wie die World Values Survey, Eurobarometer, die Shell Jugendstudie, die Studie von Schwartz (1992, 2006) oder arbeitsbezogene Werte wie die GLOBE Studie (House et al. 2004, 2014). Auch die Studie von Hofstede (1980, 2001) orientiert sich an Werten, die in Kulturdimensionen Eingang finden.

      Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart zeigt in seinen Untersuchungen zu Werten anhand des World Values Survey (WVS), dass in Gesellschaften ein stetiger Wertewandel stattfindet – etwa durch gesellschaftliche Modernisierung (Inglehart/Baker 2000). In der Umfrage, die von einem Netzwerk aus Sozialwissenschaftlern durchgeführt und in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird, werden Weltanschauungen und Überzeugungen von Menschen auf der ganzen Welt erhoben und verglichen. Die Werte betreffen die Vorstellung von Leben, Umwelt, Arbeit, Gesellschaft, Religion und Moral und nationaler Identität. Die Forschergruppe untersucht hierbei, inwiefern wirtschaftliche Entwicklung zu einer kulturellen Modernisierung und Werteverschiebung führt (Inglehart/Welzel 2005; Norris/Inglehart 2009, 2012). Tab. 17 zeigt anhand der WVS exemplarisch die Ausprägung ausgewählter arbeitsbezogener Werte einzelner Länder.

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      Die WVS stellt Werteausprägungen von Gesellschaften dar. Dazu dienen zwei Achsen: traditionell vs. säkular-rationale Werte sowie Überlebens- vs. Selbstentfaltungs-Werte (Abb.