einem nur über die Bedürfnisbefriedigung des Anderen projizierten Selbst-Verständnis.
Mit der Emanzipation aus dem politeness-Paradigma würde die Pragmalinguistik zwar das Terrain ‚verlässlicher‘ Phänomenologie verlassen, mit der man face sprachlich vermeintlich aufspüren und am ehesten systematisieren kann, es würden sich aber weitere und neue Forschungsbereiche auftun, die den diskursiven Bedingungen unserer post-modernen Gesellschaft eher gerecht werden. Mit der ihr von der Kulturphilosophie zugeordneten Bezeichnung als „faciale Gesellschaft“ (Löffler/Scholz 2004) scheint nämlich tatsächlich das face – in all seinen Lesarten – eine primordiale Rolle im gesamten öffentlichen Diskurs zu spielen. Fragen, die weit über die konfrontative Interaktion hinausgehen und die medial und technologisch sich immer weiter differenzierenden Kommunikationsformen betreffen, stellen sich mit Vehemenz ein und fordern die pragmatischen Konzepte von face sowie facework ziemlich heraus; aber auch politeness kommt nicht mehr so einfach davon, wenn man z.B. an (globale) Phänomene wie political correctness, free speech und Nettikette, oder deren Gegenteile wie shitstorms, Hass-Postings, trolling, u.ä. denkt. Angesichts dieser rasanten Ausweitung, Globalisierung und Ausdifferenzierung diskursiver Phänomene plädiere ich für mehr Anwendbarkeit der soziopragmatischen face-Konzeptionen auf die soziopolitische und mediale Kommunikation durch folgende Richtungsänderungen:
i) die eine ist der return zu Goffmans demonstrativer Konzeption von face als „verehrenswürdiger“ menschlicher Grundwert, der von Akteuren auf der öffentlichen Bühne gezeigt und für ein entsprechendes „eingeweihtes“ Publikum hin inszeniert wird. Indem Ausdrücke notwendig sind, um wirksame Eindrücke zu machen, kommt das impression management wieder ins forscherische Blickfeld zurück, das die Medienkommunikation heute in Form von Selbst-Marketing weitgehend beherrscht;
ii) die andere – damit zusammenhängend – ist die Loslösung des Selbst aus dem Blick des Anderen unter Hinwendung auf die in der heutigen Ego-Gesellschaft so vielfältigen Formen der Selbst-Darstellung, Selbst-Einschätzung und Selbst-Optimierung (cf. Held 2014). Ungeachtet der ‚alten‘ Prinzipien des ego-enhancement geht es – besonders in den Neuen Ich-Medien (facebook!) – um Erzeugung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit (shared face) oder um die Markierung von Aus- und Abgrenzung von Gruppen und Kollektiven in der Ära multipler Rollen und ständig wechselnder Identitäten durch Migration, Tourismus, Globalisierung, Mediatisierung und Anonymisierung;
iii) eine weitere bisher von der Pragmatik noch nicht beschrittene Richtung ist die omnipräsente mediale Konstruktion der Personen durch Dritte – ich nenne dieses Mittel journalistische Personalisierung (cf. Held 2007) –, wo das jeweilige ‚Gesicht‘ mit unterschiedlichen politischen Zielen durch die verschiedenste Portraitierungsformen buchstäblich ‚gegeben‘ wird. Es entsteht die brennende Frage, ob man auch da von facework sprechen darf, indem Andere faces diskursiv formen und behandeln, d.h. damit ein face öffentlich auf- und ab-werten, es erschaffen oder zerstören, u.ä.;
iv) schließlich soll das Verhältnis von face und facework unter dem Blickwinkel der Verkodung bzw. des Kanals angesprochen werden, welcher bisher fast ausschließlich der Sprache überlassen blieb. ‚Gesichtsarbeit‘ wird jedoch auch durch und mit weiteren semiotischen modes und Darstellungstechniken vermittelt, wovon das Bild heute das aktuellste und technologisch differenzierteste ist. Ob anonym oder „personalisiert“, ob bekannt oder unbekannt, faces werden multimodal in allen Facetten und mit unbegrenzter technischer Stilisierbarkeit re-produziert, als piktogrammatischer Code ersetzt oder ergänzt. Visuelle Modes rufen Emotionen hervor; sie indizieren, demonstrieren und konstruieren faces in actu zwischen connection und separation und tun dies selbst wenn das eigentliche face in der Begegnung mit anderen faces nicht sichtbar – und damit auch nicht in Gefahr! – ist (nota bene die paradoxe Bezeichnung der Neuen Medien als „faceless media“ cf. Herring 2003);
v) und nicht zuletzt noch der Hinweis auf einen Bereich, der noch viel zu wenig ausgeschöpft ist, aber gerade für die inhaltliche Füllung und kulturspezifische Ausdeutung der Fach-Konzepte von methodologischer Relevanz ist: es ist die – vor allem in der historischen Pragmatik auf Grund des fehlenden Kommunikationserlebens (cf. Paternoster 2015) – bereits erfolgreich eingesetzte Metapragmatik. Hier geht es, wie oben angedeutet, zum einen um den Zugriff auf die Metasprache anhand von sozialsemantischen und metakommunikativen Untersuchungen (wie Laien-Kommentare zum Sprachhandeln), zum anderen um die Aufarbeitung des jeweiligen offiziellen Metadiskurses (wie der Benimm- und Erziehungsliteratur) sowie des meta-kognitiven Bewusstseins, welches sich in der „Aufmachung“ des eigenen Sozial-Verhaltens reflektiert und durch die Meta-Ebene hindurch extrahieren lässt (etwa wie kommt die italienische bella figura zum Ausdruck, cf. Held 2016a).
Mit dem Brückenschlag zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung des face-Begriffs plädiere ich konkludierend für die Öffnung der politeness-Paradigmen zu face-Paradigmen. Wiewohl in der hier geführten Diskussion keineswegs die Problematik des face als „multifaceted construct that takes on dimensions of identity issues, social cognitive issues, affective issues and communication issues“ (Ting-Toomey/Crocroft 1994, 307) entschärft werden konnte, so hat die Klärung seines ontologischen Status im Verhältnis zur politeness die Omnipräsenz dieser subjekt-inhärenten Wesenheit dennoch deutlich gemacht. Face ist demnach – im Sinne der Axiome Watzlawicks – in jeder Art von Kommunikation immer vorhanden, und zwar eben als das facework. „Facework involves the enactement of face strategies, verbal and non-verbal moves, self-presentation acts, and impression management interaction“ (Ting-Toomey 1994, 1). Ohne die strategische Seite zu sehr zu betonen, ist facework die Außenseite des face und analytisch gesehen eben sein empirischer Katalysator. Diese Art Öffnung des soziopragmatischen Blicks könnte den Ansprüchen einer sich ständig wandelnden Kommunikation zwischen Globalisierung und Ausdifferenzierung, zwischen Universalität und Kulturalität, zwischen Direktheit und Indirektheit kritischer gerecht werden und so auch die aktuelle Sprachrealität theoretisch und methodisch adäquater erfassen.
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