Elle West

Die Glocke


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ihr hätte, nach ein paar Wochen, Monaten oder Jahren? Nein, das würde er nicht tun. Das wusste sie sicher, auch wenn es keinen Grund dafür gab. Sie wusste einfach, dass er nicht so ein Mann war. Sie wusste, dass er ihr niemals etwas antun würde. Er zwang sie ja nicht einmal, ihn zu begleiten, obwohl sie gesehen hatte, wie sehr er es wollte. Und wenn sie daran dachte, wurde ihr Herz neuerlich schwer. Wie traurig er sie angesehen hatte, als er erkannt hatte, dass sie wohl bleiben würde. Sie hatte das Gefühl gehabt, sein Herz wäre zerbrochen und sie selbst hatte sich ganz ähnlich gefühlt. Dabei hatte sie sich noch nicht entschieden. Sie war keinesfalls sicher, nicht mit ihm zu gehen.

      Hollie versuchte, sich das Leben mit Mason vorzustellen, doch es gelang ihr nicht recht. Würde er jeden Tag seinen illegalen Geschäften nachgehen und sie würden einander erst am späten Abend sehen? So wie es bisher gewesen war, lag diese Vermutung nahe. Würde sie den ganzen Tag, jeden Tag, alleine in irgendeiner Wohnung verbringen, die nicht ihr gehörte, nicht ihr Zuhause wäre? Ihr jetziges Leben mochte vielleicht ein wenig monoton sein, aber so sehr hatte sie sich nicht gelangweilt. Schließlich war sie seit über einem halben Jahr beinahe jeden Abend ausgegangen und hatte interessante oder auch langweilige Menschen getroffen, sich unterhalten, getanzt und getrunken. Ihr Leben war behütet und nun, da sie beinahe 24 war und Alkohol ohnehin illegal war, hatte es ihr auch Spaß gemacht. Zumindest hatte sie stets ausgehen können und dafür war New York der perfekte Ort, der aufregendste Ort. Dieses Leben hier hatte sie zu Mason geführt. Sie musste nur herausfinden, ob ihr Leben verlangte, dass sie mit ihm ging, dass sie mit ihm neu anfing.

      Hollie seufzte und leerte ihr Glas. Sie stand auf und schenkte sich nach, ehe sie die Rumflasche wieder hinter ein paar Büchern im Regal versteckte. „Unsinn.“, sagte sie sich selbst. Das Leben, ihr Leben verlangte gar nichts von ihr. Sie war es, die etwas verlangen musste. Sie war es, die ihr Leben gestaltete, die den Weg bestimmen würde und das Ziel. Nur das war entscheidend. Sie musste herausfinden, was sie wirklich wollte und dann könnte sie sich dafür einsetzen, es auch zu kriegen.

      Und was hatte sie schon bisher fertig gebracht? Sie war eine Tochter, eine Schwester und eine Freundin. Nichts davon hatte sie wirklich selbst entschieden. Sie war beinahe 24 und hatte in ihrem Leben noch nicht ein einziges Mal arbeiten müssen. Sie hatte auch keine Ahnung, was sie wirklich machen wollte. Für sie schien es ebenso spannend zu sein, Kellnerin in einer Bar zu sein, wie Journalistin zu werden. Vielleicht könnte sie beides sein? Bisher war sie nichts davon geworden, weil ihre Eltern nicht wollen würden, dass sie in irgendeiner Bar arbeitete und sie hatte keinen ihrer Texte veröffentlichen wollen, weil sie sicher war, dass man ihn nur abgedruckt hätte, weil ihr Vater reich und einflussreich war. Das wäre in New Orleans sicher anders. Doch hier lebte ihre Familie. Und so sehr ihr ihre Schwester auf die Nerven gehen konnten und so sehr sie sich manchmal mit ihren Eltern stritt, sie liebte sie alle. Sollte sie einfach so davon laufen und sie alleine lassen? Hatte sie nicht auch eine Verantwortung ihrer Familie gegenüber?

      Hollie zuckte zusammen, als ihre Schwester Chloe im Türrahmen erschien. Sie trug ein enges blaues Kleid und ihr Kopfschmuck war ein wenig verrutscht. Sie lehnte gegen den Türrahmen, weil sie ein wenig zu betrunken war, um sich ohne bedenkliches Wanken gerade zu halten.

      „Was machst du da?“, fragte sie und ließ ihren Mantel zu Boden fallen.

      „Nachdenken.“, antwortete Hollie grinsend. „Du hast zu viel getrunken, Chloe. War es eine aufregende Nacht?“

      Chloe machte ein prustendes Geräusch und kam torkelnd zu ihr herüber, während sie schwerfällig ihre Handschuhe auszog und ebenfalls zu Boden fallen ließ. „Wie jede andere Nacht auch.“, sagte sie und ließ sich neben ihrer Schwester ins Polster fallen. Ihr Blick glitt über Hollie. „Du bist wirklich schön geworden, weißt du?“

      Hollie lächelte und strich ihr über die Wange. „Dankeschön.“

      Chloe zuckte die Schultern. „Bist du glücklich, Lil?“, fragte sie dann und nutzte den Spitznamen, den sie ihr als Kind gegeben hatte und der deshalb so vertraut und familiär war. Als sie klein waren, hatte Chloe aus Hollie, Hollillie gemacht -besonders häufig wenn Hollie aus irgendeinem Grund geweint hatte- und über die Jahre war daraus der Kosename Lillie oder Lil geworden. „Ich meine, in letzter Zeit gehst du mehr aus und interessierst dich mehr für die anderen Menschen…Hast du vielleicht einen Mann gefunden? Ist es das?“

      Hollie trank einen Schluck Rum, ehe sie ihre Schwester wieder ansah. „Ich habe einen Mann kennen gelernt und ihn gleich wieder verloren.“

      Chloe musterte sie angestrengt. „Warum verloren?“

      „Er ist nicht von hier.“, antwortete sie. „Er geht wieder nach Hause.“

      „Und will dich nicht mit nehmen?“

      „Doch…doch, er will mich mit sich nehmen.“, antwortete sie und lächelte, obgleich ihr die Tränen in die Augen traten.

      „Warum bist du dann so traurig?“, fragte Chloe verständnislos.

      „Ich kann doch nicht einfach mit ihm gehen, Chloe.“, sagte sie und sah ihre Schwester abwartend an. „Ich meine…ich hab’ doch euch alle. Ich kann nicht einfach gehen.“

      Chloe seufzte und ließ sich noch tiefer in das Polster sinken, sodass sie mehr lag, als saß. „Liebst du ihn denn?“, fragte sie forschend. Und als ihre Schwester langsam, schüchtern nickte, lächelte sie. „Weißt du, ich bin auch einmal verliebt gewesen, Lillie. Ich wäre mit ihr überall hingegangen, selbst wenn uns niemand akzeptiert hätte.“

      „Mit ihr?“, fragte Hollie überrascht. Sie hatte gewusst, dass ihre große Schwester eine Feministin war und sich bereits deshalb viel mit Frauen umgab, aber sie hatte nicht gewusst, dass sie wohl auch mehr als nur Freundschaft für ihr eigenes Geschlecht empfand.

      Chloe lachte leise. „Tja, ich bin eine Lesbe, Schätzchen.“, sagte sie schulterzuckend.

      „Oh.“, brachte Hollie hervor, ehe sie zu lächeln anfing.

      Chloe lehnte sich an sie. „Das hast du nicht erwartet, oder?“

      „Nein, aber jetzt, wenn ich darüber nachdenke, dann ergibt es schon Sinn.“, antwortete sie ehrlich. „Hauptsache du bist glücklich.“

      „Ich bin nicht glücklich.“, gab Chloe sogleich zu. Sie strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht und schniefte leicht. „Sie hat mir mein Herz gebrochen und jetzt versuche ich, es zu flicken. So ist das Leben, schätze ich.“

      „Wie ist ihr Name?“, fragte Hollie und streichelte das Haar ihrer Schwester routiniert.

      „Alice.“, antwortete Chloe und fing leise zu weinen an. „Sie hat mich vor zwei Wochen fallen lassen und ist jetzt mit einem Mann zusammen. Sie sagt, sie werden heiraten. Schließlich will sie Kinder haben und wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“

      „Das tut mir leid.“, sagte Hollie ehrlich. „Kommst du damit zurecht?“

      Chloe nickte leicht. „Es tut weh, aber ich mache weiter.“, sagte sie ehrlich. „Wie heißt der Mann, der dein Herz bekommen hat?“

      „Mason.“, antwortete Hollie und musste unwillkürlich lächeln. „Ich kenne ihn eigentlich kaum, aber ich bin schon jetzt unsterblich in ihn verliebt…Und ich weiß, wie verrückt das ist. Ich glaube nicht einmal selbst, dass wir eine Chance haben. Das Leben ist so nicht.“

      Chloe richtete sich auf und blickte sie an, während sie ihre Hände umschlossen hielt. „Sag das nicht, Hollie. Du bist noch so jung.“, sagte sie eindringlich. „Du solltest mit ihm gehen, Süße. Du solltest ihn lieben, bis zum Umfallen, bis nichts mehr übrig ist. Denn das ist es, was das Leben ausmacht.“

      Hollie blickte sie forschend an. „Du sagst das, obwohl dir selbst gerade das Herz gebrochen wurde?“, fragte sie skeptisch. „Das wird vermutlich auch mir passieren, wenn ich mich jetzt darauf einlasse.“

      „Und wenn schon?“, fragte Chloe lachend. „Willst du nicht wissen, wie das ist, kleine Schwester? Willst du nie erfahren, wie erhebend das Gefühl von Liebe sein kann und wie zerschmetternd ein gebrochenes Herz sich anfühlt? Wenn du es nicht