Daniela Hochstein

Daimonion


Скачать книгу

schnell wie möglich dieser Falle zu entfliehen. Ich brauchte nicht einmal mehr lange zu suchen, bis ich die besagte Böschung und damit den Weg zurück in die Außenwelt entdeckt hatte. Allerdings erwies sich diese tatsächlich als äußerst steil, ja anfangs nahezu senkrecht, sodass ich zunächst zweifelte, sie überhaupt hinauf klettern zu können. Doch ich wollte es in Anbetracht dieser einzigen Möglichkeit keinesfalls unversucht lassen und stellte dabei überrascht fest, dass mir das Erklimmen nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete.

      Im Gegenteil. Meine Füße und Finger fanden mit erstaunlicher Sicherheit in den kleinsten Lücken des Gesteins festen Halt, und so hatte ich mit spinnenartiger Geschwindigkeit schon bald das obere Ende erreicht.

      Von hier aus warf ich noch einmal einen letzten ungläubigen Blick zurück in die Grube, in deren Tiefe ich sogar die verfluchten kleinen Monster erkennen konnte. Sie waren derweil wieder hervor gekrochen und schauten mir nun furchtsam hinterher. Voller Abscheu wandte ich mich schließlich von ihnen ab und eilte dem Ausgang entgegen.

      Als ich allerdings kurz darauf an der Felsspalte angekommen war, stellte ich erschrocken fest, dass es draußen inzwischen dunkel geworden war. Ich dachte kurz daran, in welcher Sorge meine Familie um mich sein musste. Doch der Anblick des weiten, klaren Himmels, der sich auf einmal in einem nie gekannten, strahlend dunklem Blau über mir wölbte und an dessen Dach sich Milliarden Funken sprühende Sterne tummelten, ließ mich die Sorgen für eine Weile vergessen. Stattdessen erfüllte mich eine unendliche Erleichterung sowie ein sprachloses Erstaunen.

      Von dieser unfassbar schönen Aussicht schier überwältigt, schaute ich mich um, als sei ich plötzlich über eine geheime Tür in eine mir bis dahin vollkommen fremde Welt geraten. Auf einmal stellte ich fest, dass ich selbst in der tiefsten Dunkelheit so facettenreiche Farbnuancen zu sehen vermochte, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war einfach grandios, nach dieser undurchdringlichen Dunkelheit jener Höhle nun wieder Formen und Farben – und noch dazu von solcher Intensität - zu erblicken!

      Erfrischend wie das reinste Quellwasser spürte ich die kühle Nachtluft in meinem Gesicht. Ich tat gleich mehrere tiefe Atemzüge, um so viel wie möglich davon in mich aufzunehmen, fast als wollte ich meine Lungen dadurch von der grausigen Erinnerung an die erdrückend stickige Höhle befreien. Dabei jedoch fiel mir zu meiner Verblüffung auf, dass sich nicht nur meine Sehfähigkeit verbessert hatte, sondern auch die anderen Sinne deutlich an Schärfe und Empfindlichkeit gewonnen hatten.

      Neben dem erdigen Duft feuchten Laubes und moosüberzogener Baumstämme, hatte ich plötzlich den überraschenden Eindruck, der muffige Geruch eines Kaninchens würde mir in die Nase steigen, so als befände es sich unmittelbar vor mir. Ja, er war sogar derart durchdringend, dass ich beinahe glaubte, es auf meiner Zunge schmecken zu können. Bloß, es war gar kein Kaninchen zu sehen... Erst als ich mich suchend danach umblickte, konnte ich unter einer aus dem Boden ragenden Wurzel den Eingang seines Baus entdecken, in dem es sich wohl zum Schlafe zurückgezogen hatte.

      Ebenso erging es mir mit dem Geruch eines Fuchses, dem einer Eule, dem einer kleinen Maus oder was sonst noch durch den Wald kreuchte und fleuchte. All diese Lebewesen vermochte ich nun an ihrem charakteristischen Duft zu erkennen, zu unterscheiden und zu orten. Ja, ich hätte – gleich einem Jagdhund – sogar ihre Spuren mühelos verfolgen können.

      Doch es waren nicht nur die Gerüche, die mich plötzlich mit ihrer beinahe penetranten Präsenz beeindruckten. Nein, auch die Geräusche hatten sich verändert. Beispielsweise vernahm ich das Quietschen einer Maus; allerdings hatte dieses eine Lautstärke gewonnen, die mir regelrecht das Trommelfell vibrieren ließ, fast als säße diese kleine Kreatur inmitten meiner Ohrmuschel. Es kostete mich wirklich Mühe, mich dabei auch noch auf etwas anderes konzentrieren zu können. Aber bald gelang es mir dennoch, auf dass sich nun auch das Rascheln der Blätter, das Flattern eines Nachtfalters, das Kreischen eines Käuzchens, das Rauschen des Windes und noch hunderte weitere Geräusche zu einer großartigen Komposition zusammenfügten, die mich vor Ehrfurcht bis tief unter die Haut erschauern ließ.

      Überwältigt und fasziniert von diesen vielen neuen Eindrücken trat ich schließlich aus der Höhle hinaus und spazierte staunend wie ein kleines Kind durch den Wald. Dabei vermochte mich jede Erscheinung, jedes Geräusch und jeder Geruch ganz und gar gefangen zu nehmen, bis mich das Nächste schon wieder davon ablenkte. Und so wanderte ich, berauscht von einem Potpourri aus Bildern, Düften und Klängen ziellos durch die Landschaft, vollkommen erfüllt von einem ungekannt tiefen Glücksgefühl, bestehend aus einem Körper, der – vorhin noch so von Schmerz und Pein geplagt – sich nun unerschöpflich kräftig und ausdauernd, ja schier unsterblich fühlte.

      Dabei tauchte zwar immer wieder der ermahnende Gedanke an meine Familie in meinem Hinterkopf auf, um mich daran zu erinnern, mich so schnell wie möglich auf den Heimweg zu begeben. Aber jedes Mal schob ich ihn reumütig wieder in den Hintergrund, um diesen wunderbaren, euphorischen Zustand noch etwas länger genießen zu können.

      Zum Glück, muss ich im Nachhinein sagen, denn wer weiß, was ich sonst angerichtet hätte... Denn schon bald wurde ich durch ein, sich wie ein wütendes Feuer durch meine Gedärme wühlendes Hunger- und Durstgefühl aus meiner unschuldigen Glückseligkeit herauskatapultiert. Meine Sinne, die mich bis dahin mit so vielerlei wunderbaren Eindrücken unterhalten hatten, begannen sich nun zunehmend auf potentielle Nahrung zu fokussieren. Allerdings galt mein Sehnen dabei nicht etwa frischem Wasser und ein paar Beeren, ebenso wenig wie einem schön knusprig gebratenen Wild mit einem Kelch Wein dazu... Nein, es war seltsam, aber mich verlangte es erschreckender, aber ganz zielgerichteter Weise nach Blut! Und dies mit einer Intensität, die mich schlicht ratlos machte und mich zuletzt vor mir selbst erzittern ließ.

      Aber was auch immer ich davon halten mochte, allein der Gedanke an Blut erfüllte mich schon mit wilder Ekstase und blendete jegliche denkende oder mitfühlende Instanz in mir aus. Es war mir, als ergriffe plötzlich ein fremdes Wesen von mir, oder besser meinem Körper Besitz und zwinge ihm seine verstörende Gier auf, während ich selbst bloß wie ein willenloser Hund gehorsam diesem Befehl folgte.

      Ich witterte die Beute – in diesem Moment eine Ratte, im nächsten einen Marder – erblickte sie, jagte hinter ihnen her, packte blitzschnell zu und legte sie instinktiv, als hätte ich nie etwas anderes getan, an meine Lippen. Es blieb mir nicht einmal genug Zeit, mich über mein absonderliches Verhalten zu wundern, da hatte ich bereits meine Fangzähne in die Kehle des Tieres geschlagen, um diese bis zu der pulsierenden Quelle des ach so ersehnten Blutes aufzureißen und den nährenden Saft gierig zu verschlingen.

      Anfangs brauchte ich dabei nur herunterschlucken, was sich in rhythmischen Stößen in meinen Mund ergoss. Kurze Zeit später aber ließ der Pulsschlag bereits nach und ich sog zunächst sanft, dann aber immer energischer das Blut aus dem kleinen Tier heraus, wobei sich meine Hände in seinem Fell festkrallten, als wollte ich es ausquetschen, wie eine Orange. Schließlich aber war es tot und so sehr ich auch daran sog, es kam kein Blut mehr, sodass ich den toten Körper voller Bedauern zu Boden fallen ließ.

      Die Befriedigung aber, die ich mir erhofft hatte, blieb leider aus; ja mich verlangte es stattdessen sogar nach noch mehr. Daher verfuhr ich noch mit Dutzenden von Tieren auf ganz ähnliche Weise, doch meinen Durst konnte ich einfach nicht löschen. Nein, er schien sich vielmehr noch zu steigern, fast als hätte ich soeben einen Krug voll Salzwasser geleert. Meine Kehle fühlte sich verdorrt an, wie eine Wüste und machte mich schier wahnsinnig. Von der nackten Furcht übermannt, diesen Zustand womöglich nie wieder loszuwerden, verfiel ich zuletzt in wütende Raserei, packte laut fluchend die toten Tiere, zerriss sie in der Luft und schleuderte sie zornig ins Dickicht, bis ich schließlich - der völligen Verzweiflung nah - floh. Ich rannte blindlings davon; vor mir, vor diesem unbarmherzigen Durst und vor diesem abartigen Gemetzel, das ich da angerichtet hatte und das so gar nicht zu mir passen wollte.

      Nach geraumer Zeit gelangte ich schließlich in die Nähe eines kleinen Bauernhofs, der sich, umgeben von bereits abgeernteten Feldern, einsam in eine seichte Böschung schmiegte. Eines seiner wenigen Fenster war noch erleuchtet und das flackernde Licht zog mich unweigerlich an, wie eine Motte.

      Ich schlich mich - und das konnte ich jetzt nahezu lautlos - so nah an das Fenster heran, dass ich den Raum dahinter eingehend betrachten konnte. Dank