Christian Schuetz

CYTO-X


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jetzt vorhatte. Erik dachte „Bib“ und sah kurz danach, wie Leben in sein Gerät kam.

      An einer Längsseite lösten sich Schichten ab und bildeten nach kurzer Zeit eine Schlaufe oder besser gesagt lediglich einen Bogen, der an zwei Stellen mit dem Neuro verhaftet blieb. Als alles ruhig war, nahm Erik es und hing es sich um den Hals. Das Neuro war nicht merklich kleiner geworden und lag nun auf seiner nackten Brust.

      Erik blickte in den Spiegel. Nein, das ging gar nicht! Er sah wie ein Hund mit Namensschild aus. Um den Eindruck zu verstärken, schrieb er seinen alten Namen mit dem Finger auf das Neuro, grinste dämlich in den Spiegel und machte sogar kurz „Wuff“!

       Guter Hund! Braver Zsolt!

      Er legte es wieder ab und dachte nun „Circlet“. Dies dauerte etwas länger, funktionierte aber genauso. Schichtenweise löste sich das Neuro nun an beiden Längsseiten auf, bis ein fast rundes, stabil aussehendes Stirnband entstanden war. An der Vorderseite blieb ein kleiner kompakter Halbkreis übrig mit etwa fünf Zentimetern Durchmesser, von dem aus noch ein Bogen mittig zur Rückseite des Stirnbands verlief. Es sah nun fast so aus, wie diese Leuchten für den Kopf, die sich gut für Nacht- oder Höhlenwanderungen eigneten. Nur eben ohne die Leuchte!

      Erik saß da und sinnierte ein wenig. Er hatte diese Verwandlungen beobachtet ohne großartig erstaunt zu sein. Konnte es sein, dass all das so schnell zur Normalität wurde? Hätte er das Neuro auf einen Tisch gelegt, um den herum irgendwelche Wissenschaftler oder gar Kollegen aus der Brain Factory standen, wäre der Aufschrei gigantisch gewesen. Hätte er das Gleiche vor irgendwelchen Eingeborenen vorgeführt, wäre er entweder schnell zu ihrem Gott erklärt worden oder erschlagen, weil er ein Dämon oder Teufel sein musste.

      Zumindest hätten alle anderen Menschen, sicher auch Brugger da drüben in seinem Zimmer, eine heftige Reaktion gezeigt. Erik hatte Angst vor dieser Abstumpfung. Nachträglich aufzuschreien brachte nun aber auch nichts mehr, aber er merkte, er würde im weiteren Umgang mit seinem Neuro maßvoll sein müssen.

      Aber er hatte noch so viele Fragen! Und er war erstaunlich fit, obwohl er gerade mal nur drei Stunden geschlafen hatte. Also griff er nach seinem neuen Kopfschmuck und setzte ihn vorsichtig auf.

      Das Stirnband war weit genug und passte sich dann automatisch seiner Kopfform an. Er spürte den Kontakt, aber keinen Schmerz und auch keinen Druck, nachdem die Anpassung beendet war. Er merkte sofort, dass der Austausch in dieser Form besser war. Direkter!

      Seine Frage nach dem Sinn der Formen war auch schnell beantwortet. „Bib“ und „Block“ waren Formen für den Transport. Dass „Block“ die Form war, in der er es erhalten hatte, war offensichtlich. „Circlet“ war die Form, die für den Gebrauch gedacht war. Nicht nur der Austausch erfolgte so schneller.

      Die Hand-Augen-Koordination wurde verstärkt und somit wurde schnelleres, präziseres Handeln möglich. Erik blickte sich um, wischte mit den Händen vor seinen Augen, konnte aber keinen großen Unterschied feststellen. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Äpfeln. Er griff sich drei der fünf und begann problemlos zu jonglieren, etwas was er noch nie gekonnt hatte. Das Motorik-Problem schien also gelöst zu sein! Dann griff er sich auch die beiden anderen noch und innerhalb von Sekunden lagen vier von fünf Äpfeln auf dem Boden. Wunder dauerten wohl etwas länger!

      16 - Fragen über Fragen

      Erik erinnerte sich an eine Frage, die ihn bewegt hatte, als Magnussens zu ihnen gesprochen hatte: „Wofür steht eigentlich Neuro?“ Der Ursprung des Namens lag wohl in „Neuro-Analytic Mass-Storage Interface“. Die Fähigkeiten der Produktreihe hatten sich erweitert, so dass man auch den Namen hätte erweitern müssen, aber er hatte sich da wohl schon eingebürgert.

      Nun folgten die wirklich wichtigen Fragen. Erik fragte nach, warum man sich an die Zeitreisen gewagt hatte. Welche Probleme waren so gravierend, dass man auf dieses gefährliche Mittel zurückgegriffen hatte?

      Es folgte eine für das Gerät untypische Pause. Danach wurde ihm mitgeteilt, dass eine komplette Antwort ohne weitergehende Autorisierung nicht möglich sei, aber der Hauptgrund war wohl eine Reihe von natürlichen oder von Menschen verursachten Katastrophen, die die Erde unbewohnbar gemacht hatten.

      Nach 2469 sei das Leben für Menschen nur noch in hochtechnisierten Biosphären möglich, was Erik nicht gerade mit Freude erfüllte. Gut, er hatte von der Menschheit nichts anderes erwartet, als dass sie ihr eigenes Zuhause zerstörte, aber musste seine Zeitreise ausgerechnet dorthin gehen, wo man dies alles mitansehen musste?

      Auf Fragen nach den genauen Zeitreisen erhielt er ebenso wenig Antwort, wie auf die Fragen nach den einzelnen Katastrophen. Erik wurde aber darauf hingewiesen, dass durch die stetig mögliche Veränderung der Zeitlinie hierzu korrekte Aussagen nur in Verbindung mit einem Zeitatlas möglich seien.

      Daraufhin wurde ihm ein Bild in den Kopf projiziert, von einer Karte, die wie eine moderne Sternenkarte aussah, die aber mithilfe eines Neuros keine Sterne anzeigte, sondern Ereignisse in der Zeit. So wie sich die Karte bewegte und veränderte, war sie sicher randvoll mit Cyto-X.

      Auf die Frage nach dem Ursprung der Zeitreise-Technologie wurde das Neuro wieder etwas geschwätziger. Erik war verblüfft zu hören, dass die ersten Ideen dazu tatsächlich aus dem aktuellen Jahrhundert stammten. Die NASA hatte im Rahmen der Projekte um den Flug zum Mars immer wieder Probleme mit den immensen Flugzeiten. Im Hinblick auf weitere Flüge zu noch entfernteren Zielen, beschloss ein kluger Kopf, wenn man nicht in der Lage sein sollte, mit den modernsten Antrieben Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, dann müsse man dafür sorgen, dass das Raumschiff einen Zeitsprung machte.

      Das klang auf Anhieb wie eine Schnapsidee, aber die Wissenschaft hatte die Krümmung der Zeit irgendwann als Fakt hingenommen oder definiert und die Möglichkeit von Krümmungswellen erkannt. Allein an der Erzeugung einer solchen Welle war man gescheitert.

      Erik wunderte sich darüber nicht. Schließlich hatte er gerade gelernt, dass nur organische Körper, die mit Cyto-X vollgepumpt waren, einen Zeitsprung machen konnten. Ein Raumschiff mit seinen Tonnen aus Metall würde somit von vorneherein ausscheiden. Allerdings wurde Erik jetzt auch richtig bewusst, dass dieses „mit-Cyto-X-vollgepumpt-sein“ auch ihm blühen würde, wenn er reisen wollte.

      Die Pläne für interstellare Raumfahrt wurden Ende des 21. Jahrhunderts auf Eis gelegt. Erik musste sich damit begnügen, dass eine sozialpolitische Veränderung in Nordamerika dafür der Auslöser sein würde. Er fragte nach, formulierte die Anfrage immer wieder um, aber das Neuro blieb stur.

      Es frustrierte Erik maßlos, dass das Neuro immer wieder abblockte, aber als er sich geistig wieder sammelte, wusste er, dass es gut war, dass das Neuro bestimmte Dinge nicht preisgab. Er selbst hatte vor zwei Tagen noch jeden Gedanken an Zeitreisen verurteilt. Er sollte wirklich nicht zu viel darüber wissen, über das, was die Zukunft bringen würde.

      Aber er begann langsam zu verstehen, warum Novalik Staam und sein Team auf die verzweifelte Idee mit den Zeitreisen zurückgegriffen hatten. Er überlegte kurz. Wer sagte ihm, dass es ein Team war? Das Neuro verweigerte ihm dazu schließlich die Aussage. Aber sicher würde das nicht ein Einzelner schaffen, und irgendwie war sich Erik auch sicher, dass sein Vater, zumindest für eine gewisse Zeit, Teil dieses Teams gewesen war.

      Er fragte dennoch, zunächst nach Staam, erhielt aber wieder den Verweis auf seine mangelnde Autorisierung. Keine Vita, kein Bild, nichts. Dann versuchte er es mit Hermann Stolz. Gleiches Ergebnis.

      „Kann ich daraus schließen, dass mein Vater mit Novalik Staam zusammengearbeitet hat?“ Und zum dritten Mal eine Niete gezogen. Irgendetwas sagte ihm, dass er dieses Rätsel wohl nur durch die Reise klären könnte und damit hakte er es fürs Erste ab.

      Zumindest fühlte Erik sich bereits so richtig ausgeschlafen. Anscheinend simulierte das Neuro auch die REM-Schlafphase während seiner Tätigkeit. Er beschloss gleich noch eine Runde im See zu schwimmen, aber zuerst wollte er noch wissen, was ihm da eigentlich recht unmittelbar bevorstand. Er wollte eine Beschreibung seiner Zeitreise, welche Geräte er dafür bräuchte und wie es sich anfühlen würde.

      Erik