Christian Schuetz

CYTO-X


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Zeitform: Nachdem Erik der Verlockung der Zukunft und seinem neuen Spielzeug wohl verfallen war, gab es nur noch eine mögliche Stimme der Vernunft, und die war seine eigene!

      Vor drei Tagen hätte er allerdings noch gesagt, dass er dem jüngeren Partner intellektuell jederzeit gewachsen war. Nun hatte Erik allerdings dieses Gerät, das ihn zwar nicht unbedingt intelligenter machte, ihm dafür aber Sachverhalte verraten konnte, über die sich die heutige Wissenschaft sicher noch nicht mal Gedanken gemacht hatte.

      Es wäre wohl aber nun klüger, bei strittigen Punkten nicht unbedingt auf Konfrontationskurs zu gehen. Angst hatte er keine, aber Brugger hatte das Gefühl, dass Erik sich von seinem Neuro beeinflussen lassen könnte. Das würde zwar eine gewisse Art von eigenem Willen bei dem Gerät voraussetzen, aber warum sollte ihn so etwas noch verwundern?

      Diesem Neuro vertraute Brugger auf keinen Fall. Ebenso wenig vertraute er diesem Novalik Staam, von dem das Neuro geschickt worden war.

      „Einmal ganz kräftig lächeln, bitte! Schön extrem grinsen!“ Die Anweisungen von Masken-Mike rissen Brugger aus seinen Gedanken. Solche Unterbrechungen mochte er gar nicht. Insofern war das extreme Grinsen dann auch eher ein Zähne-Fletschen, aber Mike war dennoch zufriedengestellt.

      Im Bereich seiner „Grübchen“ bekam er vier leichte Stiche gesetzt, die zumindest dazu beitrugen, das bedrohliche Fletschen der Zähne aufrecht zu erhalten. Mike erklärte nebenher, dass dies die Kontaktpunkte seien, an denen er später mit der Elektro-Stimulation eingreifen würde. Ach! Was freute sich Brugger schon darauf, dass man ihm mit Elektroschocks das Gesicht verändern würde!

      Sein Gesicht fühlte sich mittlerweile schon etwas gestrafft an. Aus den Augenwinkeln konnte er aber deutlich tiefere Falten an Stirn und Schläfen erkennen. Er war zwar nur knapp drei Jahre jünger als Magnussen, aber das Leben hatte den Norweger wohl stärker gezeichnet als ihn. Und sie wussten seit zwei Tagen auch, was ihn so mitgenommen hatte.

      Brugger durfte dann sein Gesicht aktiv entspannen. Er sollte die Kiefer in alle Richtungen bewegen und dann den Kopf einfach mal schütteln, so dass die Backen schlackerten. Dem kam er gerne nach. Anschließend wurde ihm mitgeteilt, dass nun der Feinschliff käme. Er sollte sich, sobald die Maske saß, möglichst normal benehmen und nicht daran denken, dass sein Gesicht teilweise mit einer Maske bedeckt war.

       Denken Sie an ein Tier, aber nicht an einen rosaroten Elefanten! Das funktionierte ja immer!

      Er sollte sich nicht ins Gesicht fassen. Die Maske würde einiges aushalten, aber sie musste nach dem Job auch wieder abgezogen werden können. Brugger würde sich im Auto auf seine Hände setzen und Erik fahren lassen. Er sollte möglichst auch keine Grimassen schneiden.

      „Ich schneide keine Grimassen!“, erwiderte er kurz angebunden. Er sah Eriks Grinsen aus den Augenwinkeln, sparte sich aber einen Kommentar. Dann sollte er wieder stillhalten, was er auch gerne machte, weil er sich nun endlich wieder seinen Gedankengängen verschreiben konnte.

      Für Erik schienen zwei Sachverhalte unverrückbar, obwohl es dafür keinerlei Beweise gab. Erstens: Novalik Staam war der Mann, der alles in Ordnung bringen könnte und auch würde. Zweitens: Hermann Stolz war einer der Zeitreisenden, die die Welt retten wollten.

      Dass eine Zeitreise eine automatische Rückreisefunktion besaß, sobald die maximale Aufenthaltszeit erreicht war, hatte diesen zweiten Punkt arg ins Wanken gebracht. Zumal nach näherem Befragen des Neuro die längste mögliche maximale Aufenthaltszeit mit etwa sechsunddreißig Stunden angegeben wurde.

      Dies wäre etwas knapp bemessen, um sich kennen und lieben zu lernen, zu heiraten und einen Sohn zu zeugen. Allerdings war es möglich, dass sein Vater mehr als nur eine Zeitreise durchgeführt hatte und auch die Heiratsurkunde so falsch war, wie das Zeugnis als Sanitäter.

      Das wiederum würde das Verschwinden seines Vaters und die merkwürdige Schweigsamkeit seiner Mutter zu dem Thema erklären. Aber schwach blieb die Argumentationskette trotzdem.

      Brugger behielt weiter für sich, dass er jemanden auf Nachforschungen zu Dr. Hermann Stolz angesetzt hatte. Eriks Datensuche hatte nichts zu diesem Namen ergeben. In den Fünfzigern wurde eben noch alles sauber auf Papier in Aktenordnern geführt. Da konnte man nicht einfach mal übers Internet Namen abrufen, es sei denn, jemand hätte sich die Arbeit gemacht und alle Daten der Uniklinik Dresden nachträglich auf irgendwelchen Servern gespeichert.

      Brugger hatte die Vermutung, dass man noch am ehesten in den Stasi-Akten etwas zu Dr. Stolz finden könnte, falls sein Kumpel Bernd nicht fündig werden sollte. Im Falle eines längeren Aufenthalts in der DDR, wäre so ein Verschwinden eines Arztes im Jahr 1957 sicher mit dem Vermerk „Republikflucht“ irgendwo vermerkt worden.

      Aber das wollte er auch einstweilen nicht mit Erik diskutieren. Er hatte sich vorgenommen, bei den Diskussionen behutsam vorzugehen und nicht gleich die Konfrontation zu suchen. Wie lange er sich allerdings bei den vielen Ungereimtheiten und der fast schon verklärten Sichtweise von Erik würde zurückhalten können, das stand in den Sternen.

      Vielleicht würde der Inhalt des Schließfachs neue Einsichten ergeben. Das Neuro war offensichtlich so eingestellt, dass es nicht zu viel verraten durfte. Es lässt sich natürlich mit der Sicherheit des Zeitgefüges argumentieren, aber warum das Gerät keine Angaben zu Personen machen durfte, war Brugger schleierhaft.

      Allerdings war die Verweigerung des Neuros, Auskünfte über Hermann Stolz zu machen, für ihn das bester Argument, dass Erik doch recht haben könnte und Daddy wirklich aus der Zukunft gekommen war. Warum sollte das Gerät die Aussage verweigern, wenn Dr. Stolz einfach nur ein Arzt in Dresden gewesen wäre?

      „Au!“ Ein kurzer, intensiver Schmerz hatte ihn durchfahren. Seine Augen tränten und er spürte seine Mundwinkel zucken.

      „Das war es! Das kribbelt jetzt nur noch eine Weile“, sagte Mike, der nun kontrollierend über alle Teile seiner Maske strich und dann mit einem Kosmetikpinsel für eine gleichmäßige Hautfarbe sorgte. Brugger war am Ende seiner Geduld. Der unangekündigte Elektrostoß hatte ihm den Rest gegeben.

      Dann stand Mike plötzlich auf und gab ihm die Sicht auf den Spiegel frei. Und zum zweiten Mal innerhalb von sieben Tagen erblickte Brugger dort das Gesicht von Thorwald Magnussen anstelle seines eigenen. Nur dieses Mal verwandelte es sich nicht zurück. Fast hätte er sich ins Gesicht gegriffen, um zu testen, ob das echt sei, aber er erinnerte sich an die Mahnung, genau das nicht zu tun, also schob er seine Hände schnell auf dem Stuhl unter die Oberschenkel.

      Und während Mike ihm etwas erzählte von circa acht Stunden Wirkung der Elektro-Stimulation und dass es danach nicht sofort verschwand sondern langsam und dass er die Latex-Schichten jederzeit abmachen konnte, sobald er die Maske nicht mehr brauchte, da konnte Brugger nur an eines denken: „Wie würde Marit reagieren, wenn sie mich so sehen könnte?“

      18 - Panikattacke

      Brugger war im Antlitz von Professor Magnussen verpackt und bei ihm setzte die große Nervosität ein. Er musste sich tatsächlich auf die eigenen Hände setzen, weil die Versuchung so stark war, jede Minute zu tasten, ob die Maske denn noch saß. Und die Unterhaltung während der Fahrt nach Luxemburg war dann ein einziges großes „Was-Wäre-Wenn-Spiel“.

      Was mache ich, wenn jemand anzweifelt, dass ich das auf dem Bild bin? Was mache ich, wenn mich doch jemand auf Norwegisch anspricht? Was mache ich, wenn das Passwort falsch ist? Was mache ich, wenn der Schlüssel nicht passt? Das Ganze wurde kurz vor der Grenze so schlimm, dass Erik an einem Rastplatz anhalten musste, weil Brugger am Hyperventilieren war.

      Erik ließ den Professor im Auto sitzen und besorgte im Tankstellen-Shop schnell ein Erste-Hilfe-Kit. Als erstes reichte er ihm die Plastiktüte, in der es eingepackt war und ließ ihn solange in die Tüte schnaufen, bis sich die Atmung wieder normalisiert hatte. Dann riss er das Kit auf und nahm eine Mullbinde und ein Pflaster heraus. „Brugger, es ist verdammt heiß, aber wenn es nicht anders geht, dann binde ich Dir das hier um den Hals und wir sagen, du hattest eine Operation am Kehlkopf und kannst nicht sprechen. Dann erledige ich das Sprechen für Dich. Ist