Christian Schuetz

CYTO-X


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      War diese Zeitspanne, also die Länge des Aufenthalts in der Ziel-Zeit mathematisch und physikalisch vorbestimmt?

      Nein, dies war nur die maximale Aufenthaltszeit; man könne die Rückreise jederzeit vorher initiieren.

      Und wenn man sie nicht initiierte und die Zeit einfach ablief?

      Dann würde die Rückreise automatisch stattfinden, egal, wo man sich gerade aufhielt.

      Erik war schockiert über die Sicherheitslücken, die dieses Verfahren aufwies. Wie verzweifelt mussten diese Leute sein, um auf so ein riskantes Mittel zurückzugreifen? Diese Frage hatte er sich früher schon gestellt, aber eine unbewohnbare Erde beantwortete sie eigentlich schon größtenteils.

      Mehr oder weniger beunruhigt legte Erik das Neuro ab und ging schwimmen.

      17 - Maske

      Bruggers Martyrium begann kurz nach sechs Uhr am Freitagmorgen. Als einer der führenden theoretischen Physiker Europas hatte er schon des Öfteren Angebote gehabt, im Fernsehen als Experte aufzutreten. Ein Hauptgrund, dass er stets abgelehnt hatte, war die Aussicht auf eine Sitzung in der Maske. Dort wäre er dann dreißig bis vierzig Minuten gepudert, geschminkt und frisiert worden, um für die Glotze akzeptabel auszusehen.

      Äußerlichkeiten hatten für ihn schon immer die geringste Priorität. Heute drohten ihm aber keine dreißig bis vierzig Minuten sondern drei bis vier Stunden. Als er das gehört hatte, wäre er am liebsten wieder aufgestanden, hätte sich bedankt und vorgeschlagen, jemand anders möge doch die Zukunft oder die Vergangenheit oder welche Zeit auch immer retten.

      Während eine Assistentin ihm ein paar zusätzliche graue und weiße Strähnchen in die Haare färbte, begann „Mike der Maskenbildner“ damit, immer wieder leichte Latex-Schichten auf sein Gesicht aufzutragen, nur um diese wieder abzuziehen. Dann wurden Abdrücke und Gegenabdrücke gefertigt, um so langsam die Unterschiede von Brugger zu Magnussen zu modellieren.

      Schlafen durfte er nicht dabei, weil er ab und zu Spannung auf sein Gesicht bringen sollte. Aber Brugger hatte jede Menge Zeit, um über den gestrigen Tag nachzudenken. Ein Tag, der eigentlich gut begonnen hatte. Er war früh aufgestanden und hatte einen kurzen Blick in Eriks Zimmer geworfen. Der lag auf dem Bett und schlief.

      Der Professor vermutete, dass Erik seinen Rausch ausschlief und ging frühstücken. Es war ganz angenehm, mal wieder etwas Zeit alleine zu verbringen. Als er zurück aufs Zimmer kam, hörte er bereits Geräusche aus Eriks Zimmer. Er wollte gerade zu ihm reinschauen, als sein Handy klingelte.

      Marit wollte ihm Bescheid geben, dass die Spedition bereits die Kiste abgeholt hatte und sie wohl bis Samstag, allerspätestens aber bis Montag, bei ihm in Frankfurt anliefern würde. Der folgende Small-Talk zeigte ihm, dass da wirklich eine gewisse Verbindung zu ihr bestand. Er empfand sogar leichte Schuldgefühle gegenüber Karina. War sie etwa doch nicht die einzig mögliche Frau für ihn?

      Da er derzeit aber ganz andere Probleme hatte, wurde diese Frage hinten angestellt. Marit wünschte ihnen eine gute Reise und Brugger versprach ihr, sich zu melden, sobald sie etwas gefunden hätten.

       Und schon wieder gelogen! Das wird langsam zur Gewohnheit!

      Es folgten die Fahrt nach Deutschland und ein wahrer Redeschwall von Erik. Brugger hatte sich als Fahrer angeboten, weil er dachte, dass sein junger Freund vielleicht noch nicht ganz fit war. Er war etwas erstaunt zu hören, dass dieser aber schon um vier Uhr morgens eine Stunde durch den See geschwommen war und zuvor nur deshalb noch im Bett gelegen hatte, weil er sich völlig verausgabt hatte. Dennoch war es gut, dass Brugger am Steuer saß, weil Erik so aufgeregt berichtete, dass er alle Energie und Aufmerksamkeit dafür aufbrauchte.

      Zunächst war der Professor schockiert zu hören, dass Erik das Neuro wirklich unter sein Kopfkissen gelegt und auch tatsächlich schlafend damit kommuniziert hatte. Obwohl Erik ihm versicherte, dass er vorsichtig mit seinem neuen Spielzeug sein würde, war Brugger keineswegs zufrieden. Er monierte vor allem, dass Erik jedes Wort für bare Münze genommen hatte.

      Woher nahm er diese Sicherheit? Und die Aussage, dass er einfach spürte, dass es richtig war und dass er es auch spüren würde, falls er mit dem Neuro kommunizieren könnte, beunruhigte Brugger eher noch mehr. Bei solchen Aussagen wurde Brugger immer hellhörig.

      Das war so die Ecke der menschlichen Psyche, wo es in den Glauben überging. Man konnte mit ihm jede fachlich fundierte Diskussion führen. Aber wie hätte er jemanden auf dieser Basis widerlegen sollen? Ihm blieb fürs Erste nichts anderes übrig, als ihn zu höchster Vorsicht zu mahnen und zu versuchen, trotz aller Überzeugung die Aussagen des Neuro auch mal zu hinterfragen.

      Nicht zum ersten Mal verfluchte Brugger die Entscheidung, sich in der „kreativen Woche“ ausgerechnet dieses Projekt von Magnussen vorgenommen zu haben. Vielleicht war er ein wenig eingebildet, aber er vermutete, dass jeder seiner Assistenten das schnell ad acta gelegt hätte und damit wäre es wohl für immer verschwunden gewesen.

      Aber anscheinend war es „vorherbestimmt“, dass er es wählen würde. Er war zwar nicht namentlich erwähnt worden vom Hologramm, aber wie hätte es sonst Erik nach Norwegen führen sollen, wenn nicht durch die Verbindung, die zwischen ihnen und Emma bestand?

      Wie er es drehte oder wendete, es war einfach krank. Genau das war der Grund, warum er solche hypothetischen Zeitspielchen nie mitmachen wollte. Entweder war es gar nicht seine eigene Entscheidung, sondern Bestimmung, oder diese Entscheidungen waren so vorhersehbar, dass man sie fast fünfhundert Jahre entfernt noch erkennen konnte.

      Und Entscheidungen hatte er genug zu treffen! Als er das Ergebnis vor sich hatte und besorgt war, dass es in den falschen Händen landen könnte, war er durchaus versucht, alles zu löschen und es notfalls mit ins Grab zu nehmen. Er hatte sich dafür entschieden, es mit Emma zu besprechen und erst dadurch kam das Neuro letztendlich zu seinem vorbestimmten Besitzer. Erik war so enthusiastisch, dass es gar nicht zur Diskussion stand, vielleicht doch noch alles irgendwo zu vergraben oder im Meer zu versenken.

      Die Sache mit dem Kind war natürlich auch für Brugger nicht hinzunehmen. Und seit gestern wusste er von Erik auch noch, dass die Erde im späten 25. Jahrhundert unbewohnbar werden würde und der Sinn dieser Zeitreisen wohl darin bestand, diese Zukunft rückwirkend zu verhindern. Da war sie wieder diese kranke Zeitreiselogik, die sich in wirrer Grammatik materialisierte.

      Dennoch waren sie sich bei ihrem ersten Brainstorming vor drei Tagen einig, dass sie nicht versuchen wollen würden, die Welt zu verbessern oder die Menschheit zu retten. Die Gefahr, dabei mehr kaputt zu machen als zu reparieren, war einfach zu groß. Als sie aber mit dem Schicksal eines dreijährigen Jungen konfrontiert wurden, da hatte das Problem etwas Persönliches bekommen. Ein Gesicht sozusagen!

      Und so funktioniert die Psyche des Menschen nun mal. Eine anonyme Masse an Menschen kann man wohl eher opfern oder abschreiben, als eine einzelne Person, deren Schicksal man kennt. Marit hatten sie persönlich getroffen, Professor Magnussens Forschung hatte sie ausgiebig beschäftigt, und sein Hologramm war so realistisch, als hätte er sich persönlich an sie gewandt.

      Und dann noch diese Geschichte von dem abtrünnigen Zeitreisenden oder wie man den Täter auch immer bezeichnen wollte, der ein Kind aus der Zeitlinie entfernt, weil es angeblich sechzehn Jahre später einen Terrorakt verüben würde?

      Sicher bliebe Mord immer noch Mord, aber ob man nun einen Dreijährigen oder einen Neunzehnjährigen tötete, war schon ein gewaltiger Unterschied, zumal dieser Spät-Teenager dann kurz vor seinem Terrorakt gestanden hätte. Oder stehen würde? Mal kurz überlegen!

      Brugger rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass die vereitelte Zerstörung von Oslo wohl in etwa zwei Jahren „hätte stattgefunden werden haben müssen“. Oder so ähnlich!

      2015 also, falls er richtig gerechnet hatte. Falls sie den Jungen retten würden, wäre es dann um Oslo geschehen? Oder müssten sie ihn gar erst retten und dann vom Attentat abhalten? Erst einem Kind das Leben retten und es dann sechzehn Jahre später selber töten? Oh Gott! Viel zu viele Fragen,