Wolfgang Priedl

COLLEGIUM.


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einem breiten Lächeln auf ihrem kantigen Gesicht trat sie von hinten auf Hajo und Craig heran und legte ihnen ihre Hände auf die Schultern.

      »Hallo. Schön euch zu treffen.« Die tiefe, raue Stimme ließ die beiden zusammenzucken.

      Hajo drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Hi – Du hier?!«

      »Wie du siehst.«

      »Wo ist Kirstin?«, erkundigte sich die Frau und schaute sich um. »Sie wollte längst hier sein.«

      »Kann ich dir nicht sagen. Hast du nicht die Nachrichten gehört?«

      »Nein, was ist passiert?«

      »... komm, setze dich zu uns«, mischte sich Craig ins Gespräch und wechselte auf den benachbarten Barhocker.

      Als sie sich auf die Sitzfläche schwang, rutschte der Minirock ein Stück nach oben und gab die Sicht auf die schwarzen, halterlosen Strümpfe mit venezianischer Spitze frei. Der Amerikaner benötigte einige Augenblicke, bis er seinen Blick lösen konnte.

      Gerards Räuspern riss ihn aus den Gedanken.

      Craig fühlte sich ertappt, während sich der Kellner schmunzelnd seinem neuen Gast zuwandte. »Was darf es sein?«

      »Campari-Soda, bitte«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

      Morrison hörte ein leises Klingeln, als sie auf die Flasche zeigte. Ein kleiner Eiffelturm, ein Halbmond und ein Riesenrad baumelten von ihrem Armband.

      4

      Die Passagiere drängten durch die mit beißendem Kerosingeruch durchsetzte Kabinenluft zu den Notrutschen. Die Flugbegleiterin half ihnen beim Sprung aus der Unglücksmaschine. Lucas schob die Baseballkappe zwischen die Zähne und presste seinen Rucksack mit dem Laptop an die Brust. Als er an der Reihe war, bedeutete ihm die Stewardesse, dass er mit dem Gepäckstück nicht auf die Rutsche springen dürfte. »Kein Gepäck!«, schrie sie ihm entgegen.

      Lucas ignorierte ihre Anweisung. Er griff nach dem Backpack, drehte sich reflexartig zur Seite, schleuderte den Rucksack aus dem Flugzeug und sprang hinterher.

      Vor dem Ende der Notrutsche hatte er ihn bereits eingeholt. Er schnappte sich den Ranzen, hüpfte auf den Rasen, schwang ihn auf die Schulter und sprintete vom Flieger weg. Die Hitze in seinem Nacken verlieh ihm zusätzliche Kräfte, trieb ihn voran. Die Luft flirrte vor seinen Augen und zeichnete kaleidoskopartige Muster in das hohe Gras.

      Eine blau gleißende Positionsleuchte wies ihm den Weg zum nächsten Taxiway, auf dem unzählige Einsatzfahrzeuge zum Unfallort rasten. Kaum hatte er das Betonband erreicht, blieb er stehen, beugte sich vor und stützte die Arme auf seine Knie. Niemand war ihm gefolgt. Er keuchte und drehte den Kopf zum Flugzeug. Ein Löschwagen verließ die Piste, pflügte durch das Gras, an einer Menschengruppe vorüber, die viel früher als er ihre Flucht abgebrochen hatte.

      Lucas hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er schnappte nach Luft, als wäre er minutenlang unter Wasser getaucht. Hustete, um die Kerosindämpfe aus seiner Lunge zu schleudern. Langsam richtete er sich auf.

      In diesem Augenblick schossen hinter dem Flugzeug haushohe Flammen gegen den Himmel und trieben einen schwarzen Rauchpilz vor sich her. Sekunden später eine Explosion. Die Druckwelle warf ihn unsanft zu Boden. Trümmer prasselten neben ihm nieder. Als ob sie ihn beschützen hätte können, zog er seine Jacke über den Kopf.

      Nach einer Weile hob er zögerlich den Kragen ein wenig an und lugte zur Unglücksmaschine.

      Tosend knickte das Fahrwerk ein. Dort, wo er vor einigen Sekunden Menschen gesehen hatte, herrschte mit einem Schlag gähnende Leere, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.

      Noch immer regnete es Feuerzungen vom Himmel, die zischend am Grün landeten und es an zahlreichen Stellen in Brand setzten.

      Lucas rappelte sich auf, rüttelte an seiner Jacke und überprüfte, ob ihn brennende Tropfen getroffen hatten. Instinktiv trat er einige Glutnester aus. Langsam konnte er wieder klare Gedanken fassen. Fahrig schob er seine Brille zurück zur Nasenwurzel, kniff die Augen zusammen und spähte nach der Personengruppe, die sich vorhin als Silhouette vor dem lodernden Flugzeug abgezeichnet hatte. Vereinzelt waren wieder Schatten zu erkennen. Waren es seine Kollegen, die sich dort über den Schnee schleppten? Wenn nicht, wo waren sie?

      Das Pfeifen in seinem Ohr schmerzte und überlagerte die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge, die aus allen Richtungen zum Unfallort jagten. Ein Retter rief nach ihm, aber Lucas hörte ihn nicht. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er erschrocken herum.

      »Laufen Sie zu dem Bus, der bringt Sie in Sicherheit«, schrie der Bursche in der leuchtend gelben Jacke. »Zum Bus, schnell!«

      Lucas musterte ihn entgeistert. Die Lippen des Mannes bewegten sich, aber er hörte seine Stimme nicht. Aus den Gesten erriet er, was er von ihm verlangte. Perez schaute zum Kleinbus und drehte sich anschließend in Richtung des Flugzeuges. »Ich muss meinen Kollegen helfen«, befahl ihm eine innere Stimme, doch der eiserne Griff an seiner Schulter ließ ihm keine Wahl. Man schob ihn unmissverständlich zu einem VW-Bus, in dem sich bereits Passagiere wie Ölsardinen aneinanderdrückten.

      Der Fahrer hielt sich nicht an die asphaltierten Pisten. Er fuhr den kürzesten Weg, nahm Abkürzungen und rumpelte über die Wiesen. Einige der Fahrgäste stöhnten vor Schmerz laut auf.

      *

      Am Gate erwarteten sie die Sanitäter in ihren roten Overalls und das Bodenpersonal der Airlines. Sie halfen ihnen aus dem überfüllten Fahrzeug.

      »Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«, hörte Lucas ihre Fragen. Das Pfeifen in seinen Ohren hatte nachgelassen. Er schüttelte den Kopf. »Bitte – hier entlang – Richtung Ankunftshalle.«

      Widerwillig folgte er den Anweisungen des Personals. Langsam trottete er durch das schier endlose Gebäude; das Flughafenpersonal eilte an ihm vorüber, die Funkgeräte im Anschlag. Erst jetzt bemerkte er den Schmerz auf seinem Handrücken, der von einem brennenden Kerosintropfen herrührte. Er blies auf die Wunde, während seine Augen die Umgebung nach seinen Kollegen absuchten.

      In der Gepäckhalle herrschte chaotisches Treiben. Der Lärm verschluckte die Durchsagen aus den Lautsprechern. Die Helfer bedienten sich über große Distanzen der Zeichensprache. Menschen, die sich bisher nicht gekannt hatten, sprachen miteinander. Jeder vertrat seine Meinung, als beruhe sie auf verbrieftem Wissen. Die Umstehenden schnappten einzelne Wörter auf und gaben sie als Tatsache – in 'Stiller-Post'-Manier – weiter. Die Gerüchteküche brodelte.

      Man schaffte die unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten herbei und bot sie den Passagieren an, die auf den Gepäckbändern saßen.

      Lucas entschied sich für einen freien Platz an der Wand unter der Leuchttafel ›Wien ist anders‹, von wo aus er den Zugang zur Halle im Blickfeld hatte. Vielleicht hat Peter bereits sein Mobile eingeschalten, schoss es ihm durch den Kopf und zog sein Telefon aus der Jackentasche. Er schaltete es ein, schaute auf das Display und stellte nach kurzer Zeit fest, dass es keinen Empfang gab. Verwundert steckte er es wieder ein.

      Lucas hob seinen Arm und inspizierte die Verbrennung am Handrücken.

      »Darf ich sehen?«, hörte er eine fürsorgliche Frauenstimme neben sich.

      Er schaute auf und erblickte ein gewinnendes Schmunzeln, das die Lachfalten vor den Backenknochen zusätzlich verstärkten. Die schwarze Brille betonte die dunkel geschminkten Augen. Ihre blonden Haare verdeckten teilweise das Gesicht. Die rote, um eine Nummer zu große Jacke zierten zahlreiche Reflexionsstreifen sowie der Schriftzug ›Rettungsdienst‹. Darunter war der Name ›DENNER‹ auf einem Klettstreifen aufgedruckt. Sie rückte ihre Gläser zurecht, kniete sich neben Lucas nieder und zog seinen Arm zu sich. Als sie die Verletzung inspizierte, atmete sie tief ein, als ob sie den Schmerz selbst verspüren würde. »Das sieht übel aus. – Ich desinfiziere Ihre Wunde und lege einen Verband