Wolfgang Priedl

COLLEGIUM.


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      Die Sanitäterin lächelte, nickte mit dem Kopf und kramte ein Desinfektionsmittel aus ihrem Tornister. Sie tropfte die Tinktur auf die Brandwunde. Behutsam reinigte sie mit einem Wattebausch die Verletzung, während sie wiederholt zu ihrem Patienten aufblickte.

      Lucas biss die Zähne zusammen, sog die Luft zischend ein und hielt den Atem an. Schließlich fixierte sie die keimfreie Wundauflage nicht mit einem Pflaster, wie er es gewünscht hatte, sondern umwickelte die Hand mit einer Mullbinde.

      Lucas ließ sie widerspruchslos gewähren.

      »Das war es schon. Ihr Hausarzt soll sich in den kommenden Tagen darum kümmern«, wies sie ihn an, klopfte ihm auf die Schulter und stapfte ihres Weges. Er rief ihr ein »Da ... Danke schön« hinterher, doch sie war bereits zu weit entfernt, um ihn zu hören.

      *

      Ein Passagier nach dem anderen schleppte sich in die Halle. Der Schock war ihnen in ihre rußverschmierten Gesichter geschrieben, hatte diese um Jahre altern lassen. Der Geräuschpegel schwoll stetig an. Bald würde man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Rolltragen ratterten an Lucas vorüber. Bei einigen hielten Helfer Infusionsbeutel in die Höhe.

      Er streckte wiederholt seinen Oberkörper, um die Opfer besser zu sehen. Erleichtert sackte er zurück, wenn es sich nicht um einen seiner Kollegen handelte. Aber war das ein gutes Zeichen? Sein Knie wippte, als würde er ein Spinnrad antreiben. Er schloss die Augen, drehte seine Kappe mit dem Schirm nach vorne und lehnte seinen Kopf an die Wand.

      Er fragte sich, ob es ein Unfall war. Oder ein Anschlag? Ein Anschlag auf wen? Auf die Fluglinie? Zu welchem Zweck? Rache? Erpressung? Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wuchs in ihm der Drang, sich sofort Gewissheit zu verschaffen.

      Er zog seinen Computer aus dem Rucksack. Drückte auf die Power-Taste. Erleichtert atmete er auf. Sein Rechner hatte den Sturz aus dem Flugzeug unbeschadet überstanden.

      Lucas griff nach seinem Verband und tippte mit den Fingern seiner unverletzten Hand. Es öffneten sich drei Fenster für einen Datenbankabgleich. Im ersten loggte er sich in seinen Account bei der Europol in Den Haag ein. Im zweiten versuchte er, eine Verbindung mit seinem lokalen Benutzerkonto herzustellen. Vergeblich. Er kannte das neue Passwort nicht.

      Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er presste die Lippen aufeinander, legte den Kopf schief und tippte als Benutzernamen ›Holzinger‹ ein. Beim Kennwort zögerte er. Ließ die Finger über den Tasten schweben und schrieb schließlich ›Gleitschirm‹.

      Ein Fenster öffnete sich: »FALSCHES PASSWORT«.

      Lucas kniff die Augenbrauen zusammen und strich seinem Bart entlang.

      ›Gleitschirm1991‹

      Bingo!

      Ins Suchfeld gab er ›Austria-Airlines Passagierliste‹ ein.

      Ein weiteres Fenster poppte auf: ›Autorisierung:‹.

      Der Cursor blinkte. Lucas verengte seine Augenlider zu zwei schmalen Sehschlitzen. Schließlich tippte er: ›Gefahr in Verzug.‹

      Bingo! Er hatte Zutritt zur Datenbank.

      Im Europolfenster suchte er nach ›Economy-Club Laxenburg‹.

      Es dauerte eine Weile, bis die ersten Ergebnisse angezeigt wurden. Acht Übereinstimmungen. Ein Name stach ihm ins Auge: ›VOSS. – Ist das nicht ein Vorstandsmitglied?‹.

      Damit war für ihn die Bruchlandung kein Zufall mehr. Er erinnerte sich an Peters Erzählung von dem deutschen Pharmaboss und dem Skipper, der im Sommer vor Korsika verschwand.

      Lucas Gedanken spielten Pingpong. Er versuchte, sich in die Psyche eines Attentäters hineinzuversetzen. Was trieb einen Menschen dazu, den Tod von hunderten in Kauf zu nehmen, um einen zu töten? Zorn stieg in ihm hoch. Diesen Absturz nahm er persönlich. Ein Anschlag auf sein Leben.

      Er loggte sich aus und klappte den Rechner zu. Sein rechtes Bein trieb wieder das imaginäre Spinnrad an. Er zog seinen Rucksack zu sich und verstaute seinen Computer.

      *

      »Lucas«, hörte er seinen Namen aus dem Stimmengewirr.

      Er erblickte Peter Holzinger, der neben einer Trage einher humpelte, mit seiner rechten Hand eine Sauerstoff-Flasche auf das blutverschmierte Laken presste und sich darauf abstützte, um Schritt zu halten. Der Luftschlauch des Tanks führte zu einer durchsichtigen Maske, die mit einem Gummiband auf Sarahs Gesicht fixiert war. Auf Höhe der Mundpartie beschlug der Kunststoff mit winzigen Wassertröpfchen. Sie atmete. Erst jetzt erkannte Lucas die klaffende Wunde an ihrem Schädel. Das viele Blut hatte die Haare an ihre Wange geklebt. Die Kleidung wies zahlreiche Brandlöcher auf. Ein Schuh fehlte.

      »Bahn frei, aus dem Weg! Vorsicht! Bitte treten sie zur Seite«, schrie der Arzt unentwegt und schob die Fahrtrage rücksichtslos durch die Menge. Lucas sprang von seinem Sessel auf, drehte seine Kappe nach hinten und sprintete vor das Gespann, um die Menschen aus dem Weg zu stoßen.

      »Wohin?«, erkundigte er sich lautstark, als er sich in einem günstigen Augenblick zu Peter umdrehte.

      »Richtung Health-Center. Schau auf die Schilder«, brüllte sein Chef. »Zum Parkhaus 3. Arkadengang, vis-a-vis der Apotheke.«

      Sie wechselten die Ebene und bogen zur Krankenabteilung ab.

      Ein Mann der Security am Eingang winkte den Arzt mit der Verletzten durch, verwehrte aber Peter und Lucas den Zutritt. Erbost zückte Perez seine Dienstmarke und hielt sie dem Türsteher unter die Nase. »Da ... Das ist unsere Kollegin!«, schrie er ihn an.

      Der Hüne warf einen verächtlichen Blick auf die Plakette und ließ seine Muskeln spielen. »... selbst wenn Sie der liebe Gott wären. Kein Zutritt für Besucher.« Demonstrativ streckte er ihnen seine abgewinkelte Hand entgegen.

      Peter griff nach Lucas' Schulter und zog ihn zurück.

      »Lass es. Sarah ist in guten Händen. Im Moment können wir nichts für sie tun. Ich rufe ihre Familie an ...«

      »Da ... Da wirst du Pech haben. Das Mobilnetz ist zusammengebrochen. Du hast keinen Empfang.«

      Ungläubig betrachtete Peter das Display seines Smartphones. Richtig. Kein Netzwerk. Er lehnte sich an die Wand und massierte sein Bein.

      »Wa ... Was ist euch da draußen passiert? Ich nahm an, dass ihr mir auf den Fersen seid, als ich vom Flugzeug weglief.«

      »Ohne Stock war das schwierig. Ich bin hinter Sarah hergelaufen. Sie legte ein enormes Tempo vor. Als wir uns in Sicherheit wähnten, hielten wir kurz an. Und dann explodierte dieser Flieger. – Ich hatte Schwein. Eine Plane schoss durch die Luft und begrub mich unter sich. Sarah hatte weniger Glück. Hast du ja gesehen. Sie dürfte von einem schwereren Teil am Kopf getroffen worden sein. Als ich hervorkroch, lag sie bewusstlos da. Stellenweise brannte ihre Kleidung. Ich erstickte die Flammen mit meiner Jacke, überprüfte ihren Puls und rannte um Hilfe. Überall lagen regungslose Körper. Es hat jedenfalls einige Zeit gedauert. Schließlich brachte man sie mit vier weiteren Verletzten in einem Rettungswagen zum Gate. Ich musste laufen – rannte, was das Zeug hielt. Rest kennst du.«

      »Sie ... Sie hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt?«

      »Nein, nicht solange ich bei ihr war. Und du? Was ist mit deiner Hand passiert?«

      »Sie ... Sie wurde erleuchtet«, versuchte Lucas zu scherzen. »Eine himmlische Feuerzunge hat sich in meine Haut gebrannt.«

      »Glaubst du, du kannst tippen?«

      »Kei … Kein Problem, habe ich überprüft. Funktioniert.«

      Peter runzelte die Stirn. »Sag, woher hast du deinen Rucksack?«

      »De … Der hüpfte aus dem Flugzeug«, erwiderte er schmunzelnd und zwinkerte mit einem Auge. »Ich habe ihn am Ende der Notrutsche gefunden.«