Wolfgang Priedl

COLLEGIUM.


Скачать книгу

nahm es aber nicht in die Hand. Er schaute lange auf das Display, das ihm ›Unbekannte Nummer‹ signalisierte. Er zögerte auf die pulsierende Antwort-Schaltfläche zu tippen, als hätte er Angst, dass es in demselben Augenblick explodieren würde. Nach dem vierten Brummen raffte er all seinen Mut zusammen und drückte zitternd auf den Bildschirm.

      »Hajo Voss ... Ja, sie sprechen mit ihrem Vater ...« Je länger das Gespräch andauerte, desto mehr wich sein Nicken einem Kopfschütteln.

      Er saß steif auf seinem Sessel, als hätte ihn der Fluch einer Hexe getroffen, der ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Sein Kopf füllte sich mit bleiernem Nebel. In seinen Ohren dröhnten schwere Schläge, als würde auf einem Amboss glühend heißer Stahl geschmiedet. Jeder Hammerschlag ein stechender Schmerz, dem er nicht entkommen konnte.

      »... Ja ... Ja ... Wo? … Sie schicken mir die Adresse auf mein Handy ... Wann?«, stammelte er ins Mikrofon.

      Grußlos legte er das Mobile nieder. Hilfesuchend wanderte sein Blick von einem Freund zum Nächsten.

      Keiner wagte, eine Frage zu stellen.

      »Kirstin ist tot!«

      Hajos Worte schlugen wie eine Bombe ein.

      Nur Edith entfuhr ein gleichgültiges »Oh.« Mehr nicht. Sie hob nicht ihren Kopf, fixierte weiter ihr Smartphone und wischte in einem fort darüber. Empathie und soziales Verhalten zählten nicht zu ihren Stärken.

      Der Tisch versank in dunkler Niedergeschlagenheit.

      »Jetzt werde ich nicht mehr erfahren, was sie mir erzählen wollte«, schluchzte Voss und erinnerte sich an sein letztes Telefonat mit seiner Tochter. Er erhob sich schwerfällig und torkelte zur Theke.

      Gerard erschrak, als er in das gramvolle Gesicht seines Gastes schaute. Es war binnen Minuten um Jahre gealtert.

      In Fredericas Augenwinkel sammelten sich Tränen. Sie presste beide Hände auf ihren Mund. Schließlich schlang sie ihre Arme um den Brustkorb. Weinkrämpfe schüttelten ihren Körper.

      Von ihrem Armband ertönte eine windspielartige Melodie, als würden kleine Glöckchen aneinandergestoßen, gespielt von dem Eiffelturm, dem Wiener Riesenrad und dem Halbmond.

      8

      Kurz vor sieben Uhr steckte sie behutsam den Schlüssel in die Schließzylinder. Sachte schob sie die Tür auf und hielt inne. Irgendetwas war anders. Sie schaute sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um, während die Tür ins Schloss fiel. Vor dem Eingang zum Bad lag ein geöffneter Rucksack. Den hatte sie noch nie gesehen. Sie ließ ihren Blick weiter wandern, hinüber zur Garderobe und entdeckte eine schwarze Lederjacke. Sie schüttelte ihren Kopf.

      »Peter?!«, rief sie fragend.

      Die Schlafzimmertür öffnete sich und ein schlaftrunkener Holzinger reckte seinen Hals durch den Türspalt. Sie zeigte auf den Ranzen.

      »Bine, wir haben Besuch. Hast du meine SMS nicht gesehen?«

      »Nein, wenn ich gewusst hätte, dass wir einen Gast haben, hätte ich mehr beim Bäcker eingekauft«, antwortete sie betrübt und schwenkte ein Papiersäckchen.

      Lucas hörte Stimmen, griff sich an die verletzte Hand, die vernehmlich pulsierte und kletterte unter dem Laken hervor. Er stellte sich, einzig mit Boxershorts bekleidet in den Türrahmen. »Gu ... Guten Morgen.«

      »Oh, guten Morgen«, antwortete Sabine lächelnd und musterte den Verband. »Was macht die Brandblase? Ist ihr Hausarzt zufrieden?«

      »Äh, wo ... woher wissen Sie, dass ich eine Brandverletzung habe?«, erkundigte er sich erstaunt und schaute prüfend auf seinen Verband.

      Peter war mit einem Schlag hellwach und folgte mit weit aufgerissenen Augen der Konversation. »Das würde ich auch gerne wissen«, mischte er sich mit einem skeptischen Unterton ein.

      »Wir beide kennen uns«, gab seine Freundin keck zurück.

      »Wi ... Wir kennen uns? Woher?«, erkundigte sich Lucas, dem man ansah, dass er in Windeseile seine Erinnerungen durchwühlte.

      »Kennen ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich wollte damit sagen, dass ich Ihre Hand kenne ...«

      Lucas runzelte seine Stirn.

      »... Sie waren doch gestern am Abend am Flughafen. Sie wurden bei dem Crash verletzt und saßen an der Wand, in der Nähe des Eingangs.« Sabine genoss lächelnd seine Verunsicherung.

      Der Groschen fiel. Lucas tippte sich an den Kopf. »Sie ... Sie haben meine Brandwunde versorgt. Sie waren die Ärztin – Frau Dr. Denner, wenn ich mich recht entsinne.«

      »Stimmt, aber lassen Sie den ›Doktor‹ weg. Vielleicht später einmal. – Kommt ihr beiden, ich mache uns ein Frühstück.« Sie schlüpfte aus ihren Sportschuhen und verschwand in der Küche.

      »Wi ... Wie klein doch die Welt ist.« Lucas schüttelte seinen Kopf.

      »Komm, lass uns stadtfein machen, und anschließend müssen wir ein paar Dinge bereden. Ich habe vor lauter wirren Gedanken die halbe Nacht kein Auge zugetan.«

      »O … Okay Chef. Gib mir eine Minute«, erwiderte Lucas und verschwand im Wohnzimmer. Peter vernahm die typische Melodie des Betriebssystems, wenn ein Computer herunterfuhr. Er drehte sich um und schlurfte zurück ins Schlafzimmer. Noch bevor er sein Hemd zugeknöpft hatte, gurgelte bereits Lucas im Badezimmer.

      »Sunny-side-up!«, rief Peter aus dem Zimmer, als sich der Geruch von gebratenem Schinken und Spiegeleiern in seine Nase drängte. Das Prasseln aus der Pfanne überdeckte die Antwort seiner Freundin.

      Am Frühstückstisch war der Flugzeugcrash Gesprächsthema Nummer eins. Vor allem der Umstand, dass sich Sabine und Peter nicht über den Weg gelaufen waren, weckte seinen kriminalistischen Instinkt. Die Unterhaltung nahm die Züge eines Kreuzverhöres an.

      »Peter, es reicht!«, riss Sabine der Geduldsfaden. »Was ich erzählen wollte: Zwei der drei Leichen waren total verkohlt. Ein grausiger Anblick. Es muss an die siebzig Schwerverletzte gegeben haben. Erst um vier Uhr Früh waren alle medizinisch versorgt«, berichtete Sabine, als alle um den winzigen Küchentisch saßen.

      Der Herd wurde als Beistelltischchen zweckentfremdet. Zucker, Salz und Pfeffer standen griffbereit auf der Anrichte.

      »Könnten Sie mir bitte die Kaffeekanne herüber reichen?«, bat Sabine und schaute Holzinger fordernd in die Augen.

      »Entschuldigung, ich habe euch gar nicht vorgestellt: Das ist Sabine, meine Freundin und er ist mein Partner, Lucas Perez – frisch wie eine Tulpe aus den Niederlanden importiert«, überspielte Peter sein Versäumnis mit einem Scherz.

      »Ich bin die Sabine, Sabi oder auch Bine. Kannst du dir aussuchen. – Für einen Holländer sprichst du akzentfreies Deutsch.«

      »O … Oh Gott Sabi, ich bin Österreicher. Sogar ein waschechter Wiener.«

      »Lucas Perez?«

      »Mei ... Mein Vater ist Katalane.«

      Sabine nickte schmunzelnd. »Ich kenn mich aus. Sprichst du auch Spanisch?«

      »Spa ... Spanisch und Katalan, väterlicherseits. Russisch, großväterlicherseits. Deutsch und Italienisch, mütterlicherseits. Englisch habe ich in der Schule gelernt. Und Portugiesisch können viele Spanier.«

      »Ganz schön vielseitig. Väterlicherseits, mütterlicherseits und so weiter. Und alle Sprachen fließend?«

      »Nei … Nein, mit dem Wiener Slang stehe ich noch immer auf Kriegsfuß«, lachte Lucas und rollte den Schinken über seine Gabel. »Peter, du wolltest mit mir reden?«

      »Ich habe die halbe Nacht nachgedacht und mich gefragt, wie wir mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten könnten, dass es gestern ein Unfall war. …« Holzinger massierte sich