John Marten Tailor

SINODIS


Скачать книгу

zählte. Ich ging ins Bad, um meiner morgendlichen Körperpflege nachzugehen. Als ich fertig war, wickelte ich ein Handtuch um meinen Kopf, da bemerkte ich den Zaungast in der Tür.

      »Wie lange stehst du schon da?«

      »Ich? Seit gerade eben. Hat es dich gestört?«

      »Nein, warum sollte es?«

      »Du bist so schön, Amily.«

      »Danke sehr, kannst du mir bitte das Kleid dort reichen?« Ich streifte es mir über. »Komm, Jack, beeil dich. Ich möchte ans Meer.«

      »Prima, das war auch mein Gedanke.« Jack freute sich wie ein Dreikäsehoch, wir konnten nicht schnell genug zum Strand kommen, Hand in Hand. Dort angelangt hielt ich Ausschau nach einem verträumten Plätzchen.

      »Da in den flachen Sanddünen, breite dort bitte deine Jeans aus, so wie gestern.« Wir ließen unsere Sachen in den Sand fallen und rannten in die See. Ich umschlang meinen Geliebten. Er tauchte mit mir ab, tiefer noch als zuvor. Wir überließen es den Wellen, uns an den Strand zu treiben. War das schön! Wir lachten uns an, aber Jack wollte noch einmal tauchen. Ich ließ ihn ziehen und streckte mich im Sand aus. Der Blick übers Meer und das Wellenrauschen bescherten mir Ruhe, die Sonne tat ihr Übriges, wärmte und bräunte meine Haut. Jack kehrte mit einem zufriedenen Lächeln zurück, er hatte seiner Leidenschaft gefrönt.

      »Schade, dass ich meine Tauchausrüstung nicht hier habe. Dahinten wird es ganz schön tief. Hätte ich mir gerne näher angeschaut.« Wasser war das Element, in dem er sich wohlfühlte. Nass rieb er sich an mir.

      »Pfui, Jack, du bist ganz kalt.«

      »Stimmt. Gleich wärme ich dich, dann wird dir heiß.« Ich konnte ihm nicht widerstehen. Seine Dominanz machte es unmöglich, und seine Küsse waren der himmlische Lohn. Wir suchten ständig die Nähe zueinander.

      »Weißt du was, Jack, wir sind wie kleine Kinder.«

      »Ja, finde ich auch, aber es ist sehr schön, ein wenig wie ein Kind zu sein, meinst du nicht, Amily?« Wir kitzelten und küssten uns immer wieder. Ständig lachte einer von uns. Ich genoss es in vollen Zügen, bis mich ein Anflug von Verlustangst heimsuchte.

      »Jack, ich weiß, du kannst es gewiss nicht mehr hören, aber ich liebe dich so sehr. Bitte bleibe bei mir.«

      »Warum? Ich gehe doch nicht weg, es sei denn, du willst, dass ich gehe.«

      »Nein, Jack, rede keinen Unsinn!« Ich klammerte mich an ihn. Er spürte sofort, wenn mit mir etwas nicht stimmte, strich mir über Rücken und Schultern, nahm mir die Angst.

      »Wir haben uns doch gerade erst gefunden«, ergänzte ich.

      »Wie Recht du hast. Lass uns einfach zurückgehen.« Ich warf mir das Kleid über, bückte mich und schlüpfte in meine Schuhe.

      Verträumt schlenderten wir zum Backsteinhaus zurück. Plötzlich stöhnte Jack auf:

      »Verdammt, da hat mich etwas gestochen!«

      »Zeig her«, bot ich an. Ich kannte diverse Hausmittelchen gegen Insektenstiche. Altbewährt war die Spucke-Methode.

      »Ach, schon gut. Ist schon wieder weg.« Er konnte sich nicht verkneifen, mich ständig zu kitzeln. Im Haus angekommen gingen wir direkt ins Schlafzimmer. Von Alfons war zum Glück nichts zu sehen oder zu hören. Als wir uns anschauten, hatten wir wohl beide den gleichen Gedanken, und ich sprach ihn aus. »Sturmfreie Bude!« Wir konnten uns so richtig austoben. Er packte mich fest bei den Hüften, hob mich hoch und warf mich schwungvoll auf das Bett, obwohl er wusste, dass das im Moment nicht ging. »Hey, Vorsicht!« Etwas hatte sich an Jack verändert. Es war seine starre Miene. Ich erschrak. Das Gesicht, das ich sah, gehörte nicht meinem Geliebten. Er riss seine Hose herunter und packte meine Beine.

      »Nicht, Jack, nicht so!« Ich versuchte ihn wegzudrücken, Tränen traten in meine Augen. Auf diese animalische Art wollte ich nicht geliebt werden, so sollte es zwischen Liebenden nicht sein, doch er ließ sich nicht beirren. »Das tut weh! Verdammt, Jack! Hast du sie noch alle?« Während ich mich bemühte, ihn auf Abstand zu halten, entdeckte ich etwas Grünes in seinem Nacken. Dieses Etwas glich einer Heftzwecke.

      »Was hast du da?« Er wollte mich weiterhin mit aller Macht nehmen, seine Knie drückten meine Beine auseinander. Ich bekam Panik und schrie ihn an: »Aufhören!« Doch genauso gut hätte ich mit einer Wand reden können. Aus Verzweiflung riss ich ihm dieses grüne Teil aus der Haut. Er sackte augenblicklich zusammen, wie ausgeknipst. Ich atmete auf, gleichzeitig fühlte ich mich elend, den Mann meiner Träume in diese Lage gebracht zu haben. »Jack? Sag doch was. Bitte, du machst mir Angst!« Er konnte sich offenbar nicht mehr rühren. Sein Zustand glich einer Starre. Doch er lag auf mir, erdrückte mich fast. Scheiße! Um Hilfe zu rufen war zwecklos, Alfons war ja nicht da. Wer sollte mir also helfen?

      »Jack, bitte! Stirb nicht, lass mich nicht allein.« An den Haaren hob ich seinen Kopf hoch, um mich zu vergewissern, dass er noch lebte. Ich stellte mit Herzrasen fest: tot ist er jedenfalls nicht. Gott sei Dank. Aber ich musste seinen massiven, neunzig Kilo schweren Körper irgendwie von mir runterschieben, denn ich bekam Luftnot. Ich drehte mich unter Schmerzen zur Seite, zog mein Bein unter ihm hervor. Es tat höllisch weh. Ich weinte mittlerweile, aber ich war frei. Meine Sorge galt nun Jack. Der hatte geweitete Pupillen, die verrieten, dass er wahrscheinlich an einer Art Vergiftung litt. Keine Ahnung, woher, aber ich wusste es irgendwie. Ebenso wie ich wusste, was ich als Nächstes zu tun hatte. Ich besorgte eine Flasche Wasser aus der Küche und flößte es ihm nach und nach ein.

      »Du musst trinken, verdammt.« Nur allmählich erfolgte eine Regung: Zusammenhanglose Wortfetzen, die keinen Sinn ergaben. Ich musste unbedingt einen klaren Kopf bekommen und beschloss, mich im Bad ein wenig abzukühlen. Zudem fühlte ich mich beschmutzt, schaute aber immer wieder nach Jack, der die Augen verdrehte. Konnte ich ihn kurz allein lassen? Er lallte pausenlos unverständliche Laute wie ein Baby, das Sprechen lernt. »Jack, was ist? Ich kann dich nicht verstehen.« Verzweifelt fasste ich mir an den Kopf, auf eine Eingebung hoffend.

      »Pass auf, Jack. Hör genau zu, was ich sage. Du bewegst die Augen nach rechts oder links, das kannst du doch, oder? Wobei rechts ja oder richtig und links nein oder falsch bedeutet, ist das klar?« Jack bewegte seine Augen nach rechts. Okay, ich war noch nie gut im Raten gewesen, aber wie heißt es immer so schön? Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.

      »Ich glaube, du wurdest vergiftet. Meinst du, dass es auf dem Weg von der Bucht hierher passiert sein könnte?« Jack bewegte die Augen nach rechts. Ja.

      »Gut, ich auch. Glaubst du, dass es mit der Rolle zu tun hat?« Seine Augen wanderten erneut nach rechts.

      »Alles klar. Aber es weiß doch niemand, dass wir hier sind. Die, die es wussten, sind tot. Na ja, außer Alfons natürlich. – Ob es an der Zeit ist, die Rolle zu öffnen?« Er starrte mich nur an. »Ja, ist ja gut.« Ich gab ihm einen Kuss. Mein Magen rumorte vor Aufregung. Jack wirkte, als wollte er mir noch etwas mitteilen.

      »Ja, ich weiß: Fenster, Türen, Gardinen schließen und mich erst einmal ruhig verhalten.« Jack schloss müde die Augen. Ich atmete ein paarmal tief durch. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Aber nun war die Zeit gekommen, die Rolle hinter der Bettverkleidung hervorzuholen. Diese ließ sich mit einem Trick leicht lösen. Eine Weile hielt ich den Atem an, horchte auf die Stille und holte dann die Rolle hervor.

      »Soll ich wirklich?« Ich schüttelte das Gefäß, versicherte mich bei Jack, das Richtige zu tun, löste die rote Kordel von Deckel und Rollenende, drehte den Deckel behutsam hin und her und schob dann mit beiden Daumen die Kappe von der Trommel. Der unverwechselbare Geruch nach altem Papier stieg mir in die Nase. Ich schaute in den Behälter, dort waren ein paar alte Dokumente ineinander gerollt. Die Rolle hatte einen Durchmesser von circa acht Zentimetern und war etwa fünfundvierzig Zentimeter lang. Sie war mit schwarzem Leder bezogen und besaß einen Tragegurt. Ich kippte die Rolle so, dass die Dokumente leicht herausrutschen konnten.

      »Hier sind ganz viele ziemlich alte Papiere.«

      Das erste Dokument war ein geöffneter Brief. Weitere lose Dokumente lagen ihm bei. Die