John Marten Tailor

SINODIS


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Sorge. Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren Arzt und habe schon so einiges erlebt. Ihr Freund fragt ständig nach Ihnen. Wollen Sie ihn sehen?« Ja, unbedingt wollte ich das. »Er liegt nur zwei Räume weiter. Wenn Sie möchten, hole ich einen Rollstuhl ...«

      »Keinen Rollstuhl, bitte. Ich schaffe das schon. Wenn eine Schwester oder Sie mich stützen, bekomme ich das gewiss hin.«

      »Ich übernehme das.« Er bot freimütig seinen Arm an. Nur mit dem dünnen Krankenhausnachthemd bekleidet schleppte ich mich zur Tür, öffnete diese vorsichtig, warf einen Blick auf das rege Treiben im Gang. »Es ist nur zwei Türen weiter links.« Nur zwei Zimmer weiter?

      »Das bekomme ich hin. Doktor, Sie bleiben doch besser hier, ich versuche es alleine.«

      »Wie Sie meinen. Rufen Sie mich, wenn Sie Hilfe brauchen.« Mit größter Mühe hielt ich mich aufrecht und stand schließlich atemringend vor dem Zimmer mit der Nummer dreihundertdrei. Dr. Brenner warf mir aufmunternde Blicke zu. Die wenigen Meter waren in meiner Lage anstrengender gewesen als ein Marathon. Ich klopfte an, doch es kam keine Reaktion.

      »Jack? Ich bin’s.« Ich öffnete die Tür, trat ein. Eine Gestalt lag dort, zugedeckt bis zur Nasenspitze, ich schloss die Zimmertür von innen. »Schatz?« Vielleicht schlief er. Ich näherte mich dem Krankenbett, die Hand schon ausgestreckt, um nach dem Laken zu greifen. In meinem Bauch kribbelte es wieder. Hinter dem Bett kam die Blondine zum Vorschein, ich zuckte zusammen, versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

      »Dachte ich es mir doch. Du bist gar keine Polizistin, du Miststück!«

      »Nein, Schlaumeier. Ich bin diejenige, die dir das nette Andenken verpasst hat.«

      »Du? Du Schlampe! Tut das Handgelenk wenigstens noch weh?«, erwiderte ich kalt lächelnd. Damit wäre das Geheimnis um den Schützen gelöst. Sie bemerkte abfällig:

      »Nicht der Rede wert - Berufsrisiko.«

      Im nächsten Augenblick stieß Barbie mit einem langen Kampfmesser nach mir. So haben wir nicht gewettet! Reflexartig wich ich seitwärts aus. Ein Blitz raste von den Nervenenden meines verletzten Beins direkt ins Hirn. Ich war hellwach, packte mit der linken Hand einen ihrer Arme und zog ihren Oberkörper nach vorne. Mit der rechten ergriff ich ihren anderen Arm, den mit dem Messer, und rammte ihr die dreißig Zentimeter lange Klinge in den Bauch. Woher ich die Kraft dazu nahm, war mir ein Rätsel. Es fuhr ins Fleisch wie in Butter. Angeekelt ließ ich das Messer los, das noch in ihr steckte. Sie sackte am Fußende des Bettes zusammen, die Hände auf den Bauch gepresst. Der Blick aus ihren entsetzt dreinblickenden Augen wurde glasig. Es gab noch ein dumpfes Röcheln, dann herrschte Stille im Raum ...

      Ich riss die Bettdecke zurück. Als hätte ich es geahnt! Das war nicht mein Jack. Wo die eine war, konnte der andere nicht weit sein. Schmidt grinste.

      »Lassen Sie mich raten, Sie sind die Heldin, die gedroht hat, alles um sich herum zu töten, falls Jackyboy etwas zustoßen würde. Also hier bin ich«, sagte der Pseudopolizist, den ich vorhin noch sympathisch gefunden hatte, mit einer einladenden Geste. »Leider wird dir deine Tapferkeit rein gar nichts nützen, denn du wirst dir jetzt das Leben nehmen, springst einfach aus dem Fenster. Sowas passiert jeden Tag, überall auf der Welt.«

      »So, tue ich das?« Ich war wild entschlossen, Jack und mich zu beschützen. »Ich wüsste nicht, wieso.«

      »Los, rüber zum Fenster!« Er winkte mich mit seiner schalldämpferbestückten Pistole in der Hand nach rechts. »Mach es auf!« Unbeholfen machte ich mich am Fenster zu schaffen. So sehr ich mich auch bemühte, denn mit dem Kerl war nicht zu spaßen, aber der Griff rührte sich keinen Millimeter. Ich zerrte und riss an dem Hebel. Erfolglos.

      »Mach schon!«

      »Es geht nicht.« Ich gab es auf, hatte ja eh nicht vor ... Mein Trommelfell vibrierte, als sich ein Schuss löste. Ich sprang zur Seite und schrie vor Schmerzen auf. Die plötzliche Bewegung tat mir gar nicht gut. Er hatte den Griff abgeschossen, und das Fenster schwang nun von selbst auf.

      »Zu blöd, ein Fenster aufzumachen. Los, spring jetzt, du dämliche Kuh!«

      »Nein! Niemals.« Der Kerl packte hart in mein Genick und drückte mich über das Sims. Er war ziemlich sauer. Doch ich hatte nicht vor, jetzt zu sterben. Herr Schmidt war doch nicht so gut in Form, wie er selbst gern hätte, das spielte mir in die Hände. Ich drehte mich geschickt nach links, zurück in den Raum, damit hatte er nicht gerechnet. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings aus dem Fenster. Das Glück war heute eindeutig auf meiner Seite. Ich erhaschte noch einen Blick in seine kalten Augen. Ihm kam kein Laut über die Lippen, er feuerte aber unkontrolliert um sich. Die Kugeln schlugen zum Glück nur in der Fassade ein. Dann ein dumpfes Geräusch und dann – nichts mehr.

      »Was ist hier los? Es klang wie Schüsse.« Dr. Brenner stürzte atemlos in den Raum, sah die Polizistin tot in einer Blutlache am Boden liegen, blickte auf das offene Fenster und begriff.

      »Alles in Ordnung, Amily?« Ich nickte und deutete nach draußen. Der Doktor schaute erst auf die andere Leiche im Garten und dann auf mich.

      »Sie kann man nicht eine Minute aus den Augen lassen.«

      Welche Reaktion auch immer ich erwartet hatte, diese jedenfalls nicht.

      »Wo ist denn Jack?«, wollte ich wissen.

      »Ja, wo ist er?«, fragte Brenner erstaunt. Im gleichen Augenblick trommelte jemand von innen gegen den verschließbaren Wäscheschrank. »Aha!« Der Arzt befreite den Gefangenen umgehend.

      »Oh, Jack!«, rief ich aus.

      »Bist du okay, Amily?«, fragte er kurzatmig und ich nickte. »Ich habe Schüsse gehört.«

      »Ja, das stimmt. Was ist mit dir? Geht es dir gut?«

      »Entschuldigt die Unterbrechung, aber ihr müsst weg von hier. Kommt!« Wir begaben uns Richtung Lastenaufzug, der in unserer Etage gewartet hatte, und fuhren aufwärts.

      »Was soll das alles?«, fragte ich.

      »Ich will euch helfen.«

      »Aber wieso?« Dr. Brenner überreichte uns eine Kreditkarte, Bargeld und etwas, das wir sicher nicht erwartet hatten: Eine Rolle für alte Dokumente oder Skizzen, die er unter seinem Kittel verborgen hatte. Jetzt wurde mir einiges klar. Die Männer in der Lagerhalle hatten auch von einer Rolle gesprochen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um zwei verschiedene handelte, war mehr als gering. Nur was bitte hatten Jack und ich damit zu tun? Ich wollte noch so viele Fragen loswerden. Der Aufzug stoppte und entließ uns ins Freie.

      »Ein Hubschrauber wartet auf dem Dach. Ihr müsst diese Rolle unbeschadet nach Miami bringen. Ihr bekommt dabei jegliche Hilfe, die ihr braucht«, versprach Dr. Brenner und umarmte mich kurz. »Pass auf dich auf, Amily. Viel Glück.« Dann flüsterte er mir ins Ohr: »Erinnere dich, du warst schon mal dort. Erinnere dich, Sacré Coeur de Montmartre!«

      »Nein«, protestierte ich. »Unmöglich!« Eine Kugel durchschlug die Mauer zum Helikopterdeck und durchbohrte Dr. Brenners Rücken. Sein Gesichtsausdruck ließ nur den Schluss zu, dass es sehr ernst um ihn bestellt sein musste. Er befahl uns, endlich abzuhauen.

      »Los doch, geht! Seht nicht zurück!«

      »Aber …« Sein Blick barg dennoch einen Funken Hoffnung.

      04 - Flucht

      Jack griff nach meinem Ellenbogen und zog mich mit. Wir hinkten, so schnell es in unserem Zustand möglich war, zum Helikopter, dessen Triebwerke auf Hochtouren liefen. Mit letzter Kraft hievten wir uns auf die Sitze, und dann schwebten wir auch schon davon. Es ging alles so rasend schnell, zum Nachdenken blieb überhaupt keine Zeit. Das Dach des Krankenhauses konnte ich bald nur noch schemenhaft erkennen. Noch nie war ich mit einem Hubschrauber geflogen, hatte aber keine Angst. Jack war sichtlich erschöpft und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Warme Decken und etwas Wasser aus Glasflaschen lagen für uns bereit, sowie ein paar Powerriegel. Der Pilot warf mir einen kontrollierenden Blick zu. Als er sprach, hatte sein Deutsch einen leichten Akzent: