Daniela Zörner

Fürstin des Lichts


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setzte ich Raimund auf eine Bank und strebte zu der Treppe, die auf die Orgelempore führte. Oben angelangt, floss meine Konzentration zu dem Instrument mit seiner Registratur, den Tasten und Pedalen. Auf die Schnelle fiel mir nur eine Komposition ein, die diesem ersehnten Augenblick gerecht würde: Johann Sebastian Bachs „Toccata und Fuge in D-Moll“.

      Als klarer, schallender Lockruf entwichen den ersten Pfeifen kraftvolle Töne. Sie erfüllten den Kirchenraum mit erschauernder Wucht. Immer höher hinauf wie ein explodierender Geysir rauschte der Klang gegen die Mauern, in schnellen Kaskaden wieder hinunterstürzend. Abgelöst von zart ziselierten Zwischentönen, dem fulminanten Ende zustrebend. Dann elektrisierend rein die Fuge in himmelsstrebender Leichtigkeit, sich abwechselnd mit nachdenklichen Passagen. Und zum Schluss folgte ihr traurig irdisches Finale. Eine Ekstase aus Kompositionskunst und Akustik.

      Am Ende stand Raimund da und reckte seine Arme euphorisch gen Himmel. „Wärst du ein Engel, würde ich auf Knien vor dir niedersinken“, verkündete er ergriffen.

      „Wenn du mich jetzt ein bisschen allein lässt, darfst du mir für Heiligabend eine Wunschliste zusammenstellen.“

      „Wirklich?! Du würdest für uns spielen?“

      Dem Kerl kamen doch glatt Tränen der Rührung!

      Kaum strebte Raimund dem Ausgang entgegen, betrat ich die Stufen zum Altar, kickte mit einem Fuß das Sitzkissen beiseite und verschränkte angriffswütig meine Arme. „Ihr schuldet mir eine Erklärung“, eröffnete ich unumwunden das Verhör.

      Die Sternelben zeigten sich gut vorbereitet. „Lilia, wenn du zu Beginn die Wahl zwischen Elin und Leya gehabt hättest, für welche Elbe hättest du dich entschieden?“

      Interessante Frage. Die strenge und anfangs sehr distanzierte Elin oder die burschikos warmherzige Leya? Wahrscheinlich wäre damals meine Wahl auf Leya gefallen. Ich spann die Vorstellung weiter. Wohlbehütet in einem „Glaskasten“ mit Dauerferien und seltenen Besuchen in Santa Christiana. Möglicherweise kein Erwachen des Elbenkindes und vor allem keine Hilfe für niemanden. „Wertlos für euch, aber glücklich. Ihr hättet mir die jeweiligen Konsequenzen vor Augen führen können.“

      „Wir fürchteten, dies würde dich überfordern.“

      „Warum haltet ihr mich andauernd für dermaßen beschränkt?“

      „Darum geht es nicht, Lilia. Dein bislang schwerster und bedeutendster Kampf findet in dir selbst statt.“

      „In der Tat“, antwortete ich mit unheilschwangerem Unterton, „und ich sehe kein Ende. Die Mischung aus Elbe und Mensch birgt mehr Katastrophengeläut als zweieiige Zwillinge.“

      Kein himmlischer Widerspruch.

      Die Gunst der Stunde nutzend, begann ich, sie mit einem Stapel unbeantworteter Fragen vor mir her zu treiben. „War es zur Fürstenhochzeit überhaupt statthaft, dass sich die Elbenfürstin mit einem Menschen einließ?“

      „Belian trug wenig menschliches Erbe in sich, seine elbische Kühnheit wie Schönheit waren der Fürstin durchaus ebenbürtig.“

      Plötzlich sah ich das magische Buch vor Augen. „Wieviele Elben befinden sich gegenwärtig auf der Erde?“

      „Mit Leya sind es 28.“

      „Wann wird ihr Bann aufgehoben?“, fiel mir eine dringliche Frage außer der Reihe ein.

      „In der Neujahrsnacht.“

      „Wieviele Mischwesen existieren heute?“

      „Uns sind 15 bekannt.“

      „Und wo befindet sich das Nächste?“

      „In Schottland.“

      „Und muss Elins Tod zwangsläufig kommen, weil ich ihn voraussah?“

      „Ja und nein.“

      Wie ich diese Auskunft liebte!

      Die Sternelben hoben zu einem langatmigen Vortrag über die Spielarten des Schicksals an, bis ich kapitulierte.

      „Was nützt die Gabe des Sehens überhaupt?“, fragte ich bockig weiter.

      „Du siehst wahre gegenwärtige Ereignisse. Dagegen kann die nahe Zukunft beispielsweise durch Dämonen gestört werden. Ferne Ereignisse erscheinen dir als Traumwarnung.“

      Zu den Dämonen sollte ich den Sphärenchor ebenfalls löchern, doch für heute langte es. „Habt ihr noch Fragen?“

      „Bist du nun gnädiger gestimmt, Lilia?“

      „Gnädiger?“ Ich lachte bitter auf. „Euer Nimbus als Unfehlbare und Hüterinnen der reinen Wahrheit ist hinüber. Ihr müsst schleunigst lernen, wie ein Mensch tickt, sonst mündet euer Projekt in einer, zumindest irdischen, Vollkatastrophe.“

      Hörte ich da tatsächlich ein vielstimmiges Seufzen?

      Auch nach unserem Disput blieb mein Seelenschaden ungeflickt.

      Aus dem Buch „Inghean“

      Das Menschenkind beginnt, die richtigen Fragen zu stellen. Bald muss Lilia den einen, vorbestimmten Weg des Schicksals wählen.

      Von meinem Ausflug nach Santa Christiana zurückgekehrt, wurde ich abermals mit der kalten Atmosphäre meines Gartenhauses konfrontiert. Aufmüpfig machte ich kurzen Prozess. Um die zwei Eingangssäulen wanden sich Tannengirlanden mit silbernen Leuchtsternen in den Zweigen. Die Tontöpfe rechts und links der Treppenstufen erhielten Gestecke mit silbernen Laternen darin. Auch die Balkonbrüstung oberhalb bekam eine Girlande mit roten Schleifen und weißen Lichtern, ebenso diverse Fensterbänke. Dann ging ich um das Haus herum und verpasste der Terrasse weitere Gestecke. Große Laternen mit dicken, roten Kerzenstumpen beleuchteten nun die dünne Schneedecke darauf.

      Elins silbernes Lachen erklang. „Willkommen daheim!“

      Mühsam schluckte ich einen Kloß im Hals hinunter „Warte erst mal ab, bis ich im Haus fertig bin.“ Und fügte automatisch hinzu: „Nach dem Essen.“

      „Du hast sie ins Kreuzverhör genommen“, merkte Elin ernst an, während ich eine Schüssel voll Salat bearbeitete.

      „Nun, wenn du es so nennen willst. Jedenfalls ist die Zeit ihrer Winkelzüge und Märchenstunden vorbei – hoffe ich. Sie wissen, dass ich ihr Handeln gründlich hinterfrage. Und ebenso, dass ich sie im Stich lassen werde, wenn die Karten ab sofort nicht offen auf dem Tisch liegen. Egal, wie hoch mein Preis dafür sein sollte.“

      Die Elbe erschrak über meine Worte. „Lilia, verkenne niemals ihre Macht!“

      „Nein, im Gegenteil, die Macht der Sternelben versagt auf der Erde. Wir drei allein werden hier in der Stadt auf dem Schicksalsseil balancieren.“

      „Wir drei?“, fragte sie verwirrt.

      „Ja. Leya, du und ich.“

      Elin guckte komisch.

      „Was ist denn?“

      „Ich dachte gerade an das naive Mädchen vor kaum einem Jahr. Aus meiner Schülerin ist meine Meisterin hervorgegangen.“

      „Ach, hör auf! Du bist Jahrhunderte ohne mich zurechtgekommen. Im Gegensatz zu mir benötigst du weder Ausbildung noch Rat.“

      „Was macht dich da so sicher, sehende Schwester?“ Sie erhob sich. „Die Arbeit ruft.“

      „Gib auf dich acht, Elin!“

      Nach vollendeter Mahlzeit zauberte ich, wie angekündigt, die Innendekoration. Frisches Tannengrün, rote und blaue Weihachssterne, Dufthölzer, Kerzen in jeder Größe, was immer das Sortiment an plastikfreien Zutaten hergab. Zur