Daniela Zörner

Fürstin des Lichts


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„Die Arme muss inzwischen schier verzweifeln“, gestand ich mir reumütig ein.

      Mehrere Stunden später fehlte zum Schluss noch die mörderische Vorhersage für den kommenden Tag. Dieses Instrument entspannte die Lage zwischen den übrigen Kommissaren und mir deutlich. Meine anfängliche Praxis, ihnen allmorgendlich einen blutigen Prognosevortrag zum Kaffee zu servieren, hatte unausweichlich zu kollektivem Pulsrasen geführt. Schlicht zu ungesund. „So, fertig und senden.“ In meinem Geist hörte ich die Kriminalchefin über den unerwarteten eMail-Fund gleichzeitig lachen und weinen.

      Bald würde die Morgendämmerung anbrechen.

      Ich rief die Sternelben. „Wenn ich in diesem Augenblick wissen möchte, wo in der Stadt üble Machenschaften vor sich gehen, wie stelle ich das an?“

      „Dies ist dir unmöglich. Das Sehen all der Gewalt und Not zugleich würde dich in den Wahnsinn treiben. Hüte dich!“

      „Und die Alternative?“, maulte ich ob der neuerlichen Einschränkung.

      „Du bekommst das Wissen von uns, wie gehabt.“

      Autonomie ging anders. „Euer Rapport, bitteschön.“

      Die alljährlich wiederkehrende Häufung von Diebstählen und Einbrüchen in der Vorweihnachtszeit produzierte aggressive Anspannung bei Dieben wie Ladenbesitzern.

      Verständlich, dass der Inhaber eines Elektronikgeschäfts, vor dessen Laden ich eben aus dem Wagen stieg, nach der zweiten Totalplünderung seinem drohenden Ruin nicht länger tatenlos zusehen wollte. Aber deswegen gleich mit illegaler Pistole und Schlafsack in seinem Laden zu nächtigen, nun ja. Jedenfalls besaß der Einbrecher, der den Auftrag zur neuerlichen „Räumung“ ausführen sollte, ebenfalls eine Knarre. Mein Job, logisch: Blutvergießen verhindern, Täter festnageln.

      Leider stellte sich der Inhaber als das größere Problem heraus. Ein ausgegorener Macho mit Phobie gegenüber Frauen – nur den intelligenten, versteht sich. Um vor dem Einbruch mit diesem Idioten rechtzeitig in die Pötte zu kommen, mussten unverschleierter Augenkontakt und obendrein Leuchteinsatz nachhelfen.

      Äußerst knappe zehn Minuten später lagen Einbrecher und Inhaber derb fluchend nebeneinander.

      Bis zum Sonnenaufgang sammelten sich auf der Habenseite vier unberechenbare Kriminelle, ein ausgebüxter Teenager, zwei vor dem Erfrieren gerettete Obdachlose, eine liebeskranke Selbstmörderin und ein im Pyjama umherirrender Rentner mit Alzheimer.

      Millionenstädte kennen keine Pause.

      Ohne eine einzige Stunde geschlafen zu haben, saß ich hinterher hellwach am Küchentisch. Nacheinander tanzten sieben verschiedene Weihnachtskarten an, bis die Letzte endlich meine Gnade zur Vervielfältigung fand. An den Fingern zählte ich durch: Raimund, Katja und Konny, Jan und John, Jay und Schorsch. Jede Einladung enthielt ein fett unterstrichenes Geschenke-Mitbringverbot. Den Spaß des Beschenkens wollte ich exklusiv für mich.

      Als die Elbe kurz auftauchte, dämmerte mir die Kehrseite des Festes. „Aber, Elin, was machst du denn dann an Weihachten?“

      „Oh, ich habe mich in Leyas Sommerparadies eingeladen.“

      Befreit lachend war ich einen Augenblick versucht, ihr die Schote mit den Gnomen zu erzählen. „Nein, das wäre gemein gegenüber Leya.“ Stattdessen bot ich ganz harmlos an: „Du kannst ihr mein Weihnachtsgeschenk überbringen.“

      „Was denn?“

      „Ihr Bann wird in der Neujahrsnacht aufgehoben!“

      Elin purzelten vor Staunen fast die Augen heraus. „Ja, ja, von wegen keine Meisterin“, murmelte sie im Entschwinden. Dann fiel ihr noch etwas ein und sie sandte folgende Botschaft: „Die Dämonen ziehen sich jedes Jahr zu Heiligabend zurück, sie hassen das pausenlose Glockengeläut. Erst nach Neujahr endet die himmlische Ruhe.“

      Dämonen machten Ferien? „Echt skurril.“

      Am späten Vormittag des Sonntags meldete sich Katja aus ihrem Büro und feuerte direkt eine krisendurchschüttelte Kanonade ab. „Verdammt, Lil, wo hast du gesteckt? Was meinst du eigentlich, was hier los ist?! Konntest du dein Verschwinden nicht mal vorher ankündigen? Mich einfach so im Stich zu lassen!“ Und der vorerst letzte Satz, flehentlich: „Kommst du morgen wieder?“

      „Ja und nein.“

      „Was jetzt?“

      „Ich konnte nicht Bescheid sagen und ich bin morgen wieder dabei.“

      „Na, wenigstens etwas.“

      „Sei fair, letzte Nacht habe ich für dich stundenlang Fleißarbeit geleistet.“

      „Ja-a, aber das Team.“

      Wut und Frust der Kommissare summierten sich mittlerweile zu einem veritablen Tornado.

      „Katja, behalte zwischen Weihnachten und Neujahr eine dünne Notbesetzung aus zwei Freiwilligen. Für alle anderen kündigst du morgen früh Urlaub an.“

      „Bist du verrückt?“

      „Tu es!“

      „Unmöglich, ich …“

      „Tu es einfach.“

      „Aber die ganze Stadt kocht!“

      „Katja, vertrau mir und mach.“

      Zur Friedensinitiative am Montagmorgen im Kommissariat steuerte ich Leyas Spezialkuchen plus eine ehrliche Entschuldigung, das Team im Stich gelassen zu haben, bei. Keine Begründung, stattdessen die bauchgefühlte Vorwarnung, dies könne jederzeit erneut passieren. Kaum dadurch besänftigt, aber mit zaghaft aufkeimender Urlaubsstimmung, schritten wir zur Tagesordnung.

      Das Stimmungsbarometer wurde ausgerechnet durch die Sternelben zurück in den Sturzflug katapultiert. Ergeben angelte ich Block und Kuli aus meiner Handtasche, schob beides Amelie nebenan zu und meldete mich energisch zu Wort.

      Katja unterbrach sich mit unwilligem Schnauben, alle anderen schauten stirnrunzelnd auf.

      Den Blick nach innen gerichtet, begann ich: „Vor fünfundzwanzig Minuten stieg eine 13-jährige Ausreißerin aus Potsdam an der Auffahrt Babelsberg in ein Fahrzeug nach Berlin. Ihr niedlicher Anblick hat dem Fahrer seinen Verstand verklebt.“ Hintendran diktierte ich sämtliche für die Fahndung notwendigen Daten.

      Katja donnerte Befehle, zwei Leute sprangen auf.

      Mich an den Ort des Geschehens versetzend, schilderte ich monoton: „Der Fahrer biegt auf den leeren Parkplatz an der Spanischen Allee ein. Er überwältigt sie. Er schließt sie im Kofferraum ein. Er fährt weiter. Er steuert die Ausfahrt ‚Hüttenweg‘ an. Er biegt in den Grunewald ein, sucht nach einem menschenleeren Weg. Er hält an. Er wird sich verschwommen seines Tuns bewusst, glaubt, er kann nicht zurück. Er steigt aus, öffnet den Kofferraum. Das Mädchen springt ihn verzweifelt an, entreißt sich seinen Armen, läuft los.“

      Von einer Sekunde auf die andere schlug das Schicksal derart unerbittlich zu, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Wie in Zeitlupe sehe ich das rennende Mädchen sich an sein kränkliches Herz fassen. Mit panisch aufgerissenen Augen fällt sie nieder. „Zu spät, sie ist tot“, flüsterte ich tränenüberströmt.

      Grabesstille im Raum.

      Von weitem vernahm ich Katjas belegte Stimme. „Schnappt ihn euch.“

      Sämtliche Augen ruhten auf mir, einige verstanden endlich, andere kämpften mit ihren Gefühlen.

      Katja brüllte: „Holt mir den Scheißkerl! Sofort!“

      Der Konferenzraum füllte sich unerträglich mit Ausdünstungen ihrer Emotionen, die die ganze Palette von Mitleid bis zu blankem Grauen abdeckten. Mühsam schaffte ich es, meinen Geist davor zu verschließen.

      Elendig