Was, wenn ich ihr wehtue, sie verletze.«
Als hätte auch sie die Fähigkeit, in seinen Geist einzutauchen, klammerte sie sich an ihn und wurde dabei stetig fordernder. Jede Faser ihres Körpers schrie nach ihm: Nicht aufhören! Bitte nicht aufhören!
Doch er tat es. Langsam löste er sich von ihrem Mund und legte seine Stirn an ihre. Allerdings hielt er sie nach wie vor fest in seinen Armen, sodass ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten.
»Nein, ich glaube wirklich nicht, dass du Angst hast, mit mir allein zu sein, süße Lena.« Jetzt sah er ihr in die grün schimmernden Augen. »Wie schön du bist. Am liebsten würde ich dich immerzu anschauen.« Vorsichtig stellte er sie auf ihre Füße. »So klein und zart.« Er strich mit dem Finger über ihre errötende Wange. »Deine Haut, sie schimmert. Deine Augen, manchmal sind sie grau und dann wieder grün. Und dein Mund, dieser Mund …«
Er riss sie erneut von den Füßen und verschlang diesen Mund. Eigentlich hatte er es beenden wollen, doch jetzt siegte sein Begehren über jegliche Vernunft. Er wollte sich nur noch in diesem Kuss verlieren. Mit ihr!
***
»Stopp, stopp, stopp! Wo willst du denn hin?«, erkundigte sich Viktor, als Anna sich heimlich aus der Schlossküche zu schleichen versuchte.
»Ich will nur mal kurz nach Lena sehen. Sie ist schon seit fast einer Stunde da draußen, mit Sentran, in der Kälte.« Hastig wandte sie sich ab, weil Viktor sie amüsiert angrinste. »Wir haben sie einfach stehenlassen, Viktor. Das war gemein von uns.«
Er lachte auf. »Fühlst du denn nicht, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, du Dummerchen?« Anna sah ihn fragend an. »Süße, Sentran kümmert sich um deine Schwester. Sehr intensiv, sehr liebevoll und sehr stürmisch.«
Viktor grinste weiterhin derart breit und frech, dass Anna sich etwas beruhigte. »Oh, na dann, hhm«, druckste sie.
»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Kleines. Lena ist erwachsen und Sentran kein Wüstling.« Er blickte sich demonstrativ um. »Ich mach mir eher Sorgen um meinen Vater und Loana. Wo stecken die beiden bloß? Vitus weiß doch, dass wir hier sind.«
***
»Ooh, Vitus, tut mir leid, es geht schon wieder los.« Loana rannte Richtung Bad und Vitus hinterher. »Ach, Liebster, nun lass mich doch bitte allein. Ich …«
Weiter kam sie nicht, denn sie erbrach sich zum dritten Mal an diesem Tag. Sie kauerte vor der Toilettenschüssel und wurde so heftig von Würgekrämpfen geschüttelt, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen.
»Loana, da kann doch gar nichts mehr zum Ausspucken sein. Das gibt’s doch nicht. Was ist denn nur mit dir los?«
»Ich glaube, jetzt ist es gut«, keuchte sie, während sie wieder aufstand. Als sie daraufhin zum Waschbecken ging, funkelte sie Vitus an. »Geh doch bitte schon mal runter zu den Kindern. Ich mach mich nur schnell ein bisschen frisch.«
»Ich weiß nicht.«
»Vitus, lass mich einfach mal allein, ja?« Loanas Tonfall war deutlich gereizt, wie schon so oft in letzter Zeit.
Zögernd ging Vitus in Richtung Tür. »Bist du dir sicher?«
»Ja, bin ich. Ich komme sofort nach.« Sie seufzte, als sie seinen zweifelnden Blick sah. »Ganz bestimmt, Vitus. Ich komme gleich.«
Zutiefst beunruhigt verließ Vitus das Bad.
… Bei Estra hatten sie noch gedacht, es hätte am Obstler gelegen. Seitdem hatte sich Loana jeden Tag übergeben müssen. Mal war es heftig, mal etwas weniger, doch immer regelmäßig. Vitus kam fast um vor Sorge. Seine Kened war krank. Und er konnte nicht erkennen, was ihr fehlte. …
Mit diesen Gedanken betrat er die Küche, wo Anna und Viktor am Tisch saßen und gemeinsam an einer Suppe löffelten. Beide hörten sofort auf zu essen, als sie Vitus erblickten.
»Himmel, Vater, was ist passiert?«, wollte Viktor wissen. »Natürlich ist was nicht in Ordnung«, fügte er rasch hinzu, weil Vitus abwehrend den Kopf schüttelte.
»Ist etwas mit Loana?«, hakte Anna nach.
»Ich weiß es nicht.« Vitus konnte seine Verzweiflung und Besorgnis nicht mehr unterdrücken. »Ihr geht es nun schon seit mehreren Wochen so schlecht. Andauernd ist ihr übel und sie kann kaum noch etwas bei sich behalten.« Er schaute seinen Kindern in die Augen. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
Völlig erschöpft und ausgelaugt setzte er sich zu ihnen an den Tisch.
Nach einer kurzen Denkpause lächelte Anna milde.
»Regelmäßige Übelkeit und Erbrechen? Müdigkeit, Kraftlosigkeit? Vielleicht hier und da auch Reizbarkeit? Vitus! Denk nach!«
Ihr Lächeln verstörte ihn. Er hatte die Ellenbogen am Tisch aufgestellt, raufte sich die langen Haare, als er schlagartig innehielt und Annas Gedanken mit seinen kombinierte. Er spürte, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht sickerte. Seine Hände begannen zu zittern.
Dann ließ er seine Ellenbogen auf den Tisch sinken und sah Anna ungläubig an. »Du meinst, sie ist … Du meinst, sie bekommt … Sie, sie ist …«
***
Loana kam gerade zur Küche herein, da hörte sie, wie Vitus ein, nein, das Licht aufging. Überglücklich umschlang sie ihn von hinten und flüsterte ihm zärtlich ins Ohr: »Ja, Vitus, ich bin es, ich bekomme tatsächlich ein Kind. Wir bekommen ein Baby.«
Vitus drehte den Kopf zu ihr. Seine Miene versteinerte sich zu einer harten Maske. Er zitterte leicht und war kreidebleich.
»Was habe ich getan?« Er sprang derart schnell auf und ging auf Loana zu, dass sie erschrocken zur Seite trat. »Es tut mir so leid.« Fahrig fuhr er sich mit der Hand über Gesicht und Haar. »Das hab ich nicht gewollt. Was sollen wir denn jetzt nur tun?«
Loana brach es fast das Herz. Mit einer solchen Reaktion hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Sie hatte jahrelang angenommen, keine Kinder bekommen zu können. Doch heute Morgen war sie sich mit einem Mal über ihren Zustand klargeworden. Heute Morgen hatte sie endlich erkannt, warum ihr andauernd so schlecht war, und sich so sehr darüber gefreut. Ein Baby! Sie und Vitus würden Eltern werden.
Aber nun verflog all ihre Freude darüber, weil sie in Vitus’ Augen eben keine solche Freude, sondern schiere Verzweiflung sah – und Angst, pure Angst, eher sogar Panik. Im ersten Moment begriff sie überhaupt nicht, wieso er so anders als erwartet reagierte. Mittlerweile hatte sie geglaubt, ihn trotz der Kürze der Zeit gut genug zu kennen.
Für