Michael Schwingenschlögl

Märchenstunde


Скачать книгу

war da wieder anderer Meinung: „Du fantasierst dir da die Welt so zusammen, wie du sie gerne haben möchtest. Oben bei der alten Nordwacht liegt schon Schnee, dort ist es viel zu kalt für Kinderspiele oder ein zärtliches Stündchen. Außerdem marschiert man da Stunden hinauf, niemand von den jungen würde sich diese Anstrengung antun. Die heutige Jugend ist viel zu verwöhnt, die verplempern ihre Zeit doch lieber in der warmen Stube. Und was ist mit dem Greif, der meinen armen Ruben letztes Jahr zerfetzt und verschlungen hat? Habe ich mir den wohl auch nur ausgedacht?“

      Ragnar wusste aber immer noch alles besser: „Du redest Müll, Gunther. Ich glaube, dir tut das Gebräu in deinem Krug nicht gut. Als wir noch kleine Hüpfer waren, sind wir auch immer weit spaziert, um uns die Zeit zu vertreiben. Ja, einmal sogar bis zu den drei Weiden vor dem Kieferbachfall. Und dass es Greifen in dieser Gegend gibt, das bestreite ich doch gar nicht, die haben doch seit jeher am Rotjoch ihre Nester. Ich habe selbst schon viele gesehen. Nur der ganze Scheiß von schwarzen Magiern und Trollen und Riesen und was weiß ich, ist nur ein dummes Hirngespinst von ein paar Bekloppten.“

      Die Diskussion wurde immer hitziger, da musste Tuva, die vollschlanke Gastronomiefachfrau, gleich ein paar neue Krüge Met an den Tisch bringen. Nach den ersten Schlucken mischte auch Jaromir wieder mit: „Du bist hier der Bekloppte, Ragnar! Und ein sturer Esel bist du auch noch. Jeder merkt, dass sich da etwas zusammenbraut, selbst die Hühner in deinem Stall. Manch einer sagt ja sogar, es wäre soweit, die Zeit ist reif. Er wandle schon durch die Lande und hat die Gestalt eines alten, buckligen Mannes.“

      Ragnar hatte nun endgültig genug von den ganzen Geschichten: „Jetzt reicht es mir, jetzt wird mir das Ganze zu abenteuerlich. Jetzt gräbt ihr schon die schaurigsten aller Räubergeschichten aus den Ahnengräbern aus. Du weißt, dass das nur ein billiges Schauermärchen ist, nicht einmal meine kleine Enkeltochter fürchtet sich davor und du bringst das jetzt ernsthaft in unser Gespräch ein? Ich gehe lieber nachhause, vielleicht ist meine Grete ja noch wach und erzählt mir den neuesten Tratsch der Waschweiber. Das wäre mir sogar lieber, als hier mit euch die Ammenmärchen durchzukauen. Gute Nacht an alle!“

      „Ragnar, du wirst schon noch merken, dass etwas nicht stimmt und andere Zeiten aufkommen werden. Spätestens wenn die Trolle einen deiner Ochsen reißen.“, rief Jerolf dem alten Bauern als gute Nachtgruß nach.

      Dann kam plötzlich ein junger Mann an den Tisch, nahm sich den leeren Stuhl, auf dem Ragnar vorhin saß und sprach zur der Runde: „Erzählt mir mehr von ihm. Wer wandelt durch die Lande?“

      Sehr rätselhaft und ich werde diese Unterhaltung in der Gaststube nun unterbrechen, wir werden später noch erfahren, wer dieser junge Mann war und was die alten Männer von „ihm“ zu berichten wussten.

      Auch wenn es unser neuer Freund Ragnar nicht glauben wollte, aber seine Saufkumpanen hatten recht, etwas stimmte schon länger nicht mehr, etwas Seltsames ging da draußen vor sich und der junge Mann glaubte ihnen.

      Was das war, werdet ihr schon noch früh genug erfahren, man darf ja nicht schon zur Vorspeise die besten Köstlichkeiten und Weine servieren, man muss sich immer noch steigern können. Wir werden auf jeden Fall noch einmal auf dieses Bergdorf zurückkommen müssen, deshalb habe ich das euch jetzt erzählt.

      Verlassen wir aber nun die ländlichen Gegenden und begeben uns ein Stück nach Osten in die Kaiserstadt. Ach, die Kaiserstadt, allein beim Gedanken an sie schmelze ich noch immer dahin. Von den Elfen wurde sie auch manchmal die Stadt der drei Türme genannt. Freunde, ich wünschte, ihr hättet sie einmal gesehen. Das rege Treiben, das dort in den engen und verwinkelten Gassen herrschte, einfach traumhaft! Ein kunterbunter und vielfältiger Schmelztegel, der niemals schlief und alle möglichen Kulturen des Landes beheimatete. In jedem noch so kleinen Winkel herrschte Leben, selbst wenn es nur ein verkrüppelter Penner war. Natürlich gab es noch viel mehr: Die schmalen und hohen Häuser aus Stein und Holz, die dicht aneinander gebaut waren; die kitschigen Fachwerkhäuser an den Ufern der Kanäle; die vielen Brücken über eben diese Kanäle und den Strom; der große Hafen und der beißende Fischgeruch dort; die Hafenpromenade mit ihren schrulligen Gasthäusern, deren Lichter sich am Abend im Wasser spiegelten; die aufgeschlossenen Leute; die Gauner an den Marktplätzen; die Hütchenspieler, die alle gnadenlos abzockten; die Gaukler; die Huren an den Straßenecken; die Obdachlosen, die unter den vielen schönen Brücken von denen ich gerade erzählt habe, qualvoll an Hunger und Krankheit verendeten; dieser zärtliche Duft nach frisch gebackenem Brot, gegrilltem Wildschwein, exotischen Kräutern und Urin, wunderbar! Einfach alles war wunderbar, eine Stadt zum Verlieben, vergesst Paris.

      Ich weiß noch genau den Moment, an dem ich sie zum ersten Mal erblickte.

      Wenn man von Westen aus über die Vallenberge kam und an deren Ende den berühmten Zengenpass überschritt, dann stand man wenig später am obersten Rand der kahlen Wand, eine 800 Fuß hohe Felswand, die senkrecht in die Wälder abfiel. Und vor einem, oder besser gesagt unter einem, erstreckte sich die große Ebene von Yaldul. Ein prachtvoller Anblick, den man vor der Weiterreise erstmal in vollen Zügen genießen musste. Wie sich Yaldul, der blaue Strom, in Mäandern durch diese warme und imposante Landschaft schwang und sich dessen ozeanblaues Wasser ganz gediegen in das liebliche Tannengrün dieser flachen Gegend schmiegte, ein Gedicht sage ich euch.

      Dieses Bild würde euch auf Instagram eine Menge Likes einbringen, viel mehr als euer tägliches Selfie, das kann ich euch garantieren. Und das sogar ohne Filter!

      Ganz hinten im Osten, dort wo sich schon langsam wieder die ersten Hügel aus dem grünen Boden erhoben, lag sie: Die Stadt der Kaiser, das Herzstück von Ithrien und für viele sogar von der ganzen Welt.

      Wenn man hier oben an der kahlen Wand die große Stadt in der Ferne genau fokussierte, dann konnte man sogar schon einige ihrer markanten Bauten erspähen.

      Nein, konnte man nicht, die Stadt war zu weit entfernt, aber so klingt es irgendwie besser. Stellen wir uns einfach vor, dass wir ein extrem gutes Fernrohr dabeihaben, dann könnte das vielleicht funktionieren. Also, wir stehen mit unserem Hightech-Spiegelteleskop am Rand der kahlen Wand und visieren die Kaiserstadt an. Da stach einem natürlich gleich der frappante Tempel der Götter ins Auge, der auf einer kleinen Anhöhe in der Mitte der Stadt thronte. Von der Architektur her erinnerte er stark an eine gotische Kathedrale, nur ohne Türme und dem komischen Christenzeug.

      Rund um den Göttertempel befand sich der wohlhabendste Teil der Stadt. Der 1. Bezirk oder die Upper East Side der damaligen Zeit. Hier fand man die besten Gasthöfe des ganzen Landes, die Creme de la Creme der ithrieschen Spitzenköche sorgte hier für kulinarische Orgasmen in den Mäulern ihrer hungrigen und versnobten Gäste. Vorausgesetzt, man konnte sich so ein Festmahl leisten, denn damit Jamie Olivers Urahnen die Pfannen herausholten und ihre Öfen anschmissen, musste man schon einen dicken Beutel voller Nobel auf den Tisch knallen. Nicht leistbar für den primitiven Pöbel, daher traf man bei Tisch nur reiche Geschäftsleute, Adelige und Ganoven, die sich einen schönen Berg an Kapital ergaunerten, also Bankiers, an.

      In diesem Viertel gab es eben auch einige Banken sowie luxuriöse Geschäfte. Kleider aus feinster Seide konnte man hier erwerben, feine Kräuter aus den fernen Landen, exquisite Fleischköstlichkeiten wie Einhornleber und teure Einrichtungsgegenstände wie Stühle aus Elfenbein. Es gab alles, was das verwöhnte Oberschichtsherz begehrte. Mit der kaiserlichen Universität gab es hier ein weiteres imposantes Gebäude zu bewundern. Direkt in der Innenstadt lag auch das nobelste Wohnviertel der Stadt, in dem sich die prunkvollen und extravaganten Häuser schon fast überschlugen. Ein Haus stach einem schon von weiter Ferne ins Auge, das Rainer Besener Haus. Hierbei handelte es sich um das erste Hochhaus der Geschichte. Rainer Besener war ein reicher Geschäftsmann und wollte gleich drei Häuser in diesem Viertel bauen, allerdings gab es zu seiner Zeit nur mehr Platz für ein Haus. Deshalb baute er einfach drei Häuser übereinander. Auf die Frage warum er denn unbedingt drei Häuser auf einmal bauen wollte und dies dann sogar übereinander tat, antwortete er stets: „Weil ich es mir leisten kann!“ Rainer Besener war wahrlich wohlhabend, oft stellte er sich auf das Dach seines Hauses und schmiss sein Geld hinunter, einfach weil er so viel davon hatte und nicht wusste, was er sonst damit anstellen sollte.

      Ein Stück nördlich vom großen Tempel ragte der Turm der weißen Wacht in den Himmel, das höchste Gebäude der Stadt.