Gast“. “Oh, danke! Aber bloß kein Bier. Nicht wegen der Uhrzeit, ich hab nur an meinem letzten Tag in Bangkok zuviel Chang Beer getrunken, da brauche ich erst mal ein paar Tage Pause. Für mich einen Kaffee, bitte.” “Sehr vernünftig“, nickte sie, “aber ich trinke nun mal gerne Bier, und wenn ich arbeite, kann ich mir das nicht leisten. Ausserdem bin ich immer noch in Feierstimmung“.
Katai war ungwohnt schnell bei uns, vielleicht waren wir ihr aufgefallen, weil wir hier draussen die einzigen Gäste waren. Marie bestellte auf Englisch und Katai schaute mich etwas verwundert an, sagte aber nichts. Ich nahm mir eine Roth-Händle und hielt ihr die Packung hin. “Nein, danke, so was vertrage ich nicht, eine Filterzigarette genehmige ich mir schon mal gelegentlich. Ich rauche ja nicht, um Himmels Willen, nur so ab und zu mal eine, reiner Luxus. Irgendwer hat mal gesagt, ein Arzt, der raucht, ist wie ein Richter, der klaut”, schmunzelte sie. “Nur in den letzten beiden Tagen habe ich aus purer Verweiflung fast ein ganzes Päckchen geraucht”. “Filter hab ich auch“, antwortete ich, erleichtert, dass sie mich nicht anmeckerte wegen der Qualmerei, “sind aber Mentholzigaretten”, kramte mein Päckchen Saiphon aus der Tasche und reichte es ihr. “Um so besser, Menthol zählt in der Humanmedizin ja zu den Heilmitteln”, meinte sie und ich gab ihr Feuer. Katai brachte eine Flasche Singha, ein vereistes Bierglas und meinen Kaffee, mittlerweile war es halb eins. “Wie lange warst du in Bangkok?”. “Drei Tage“, sagte ich, “vorgestern bin ich hier angekommen, bleibe noch 12 Tage hier, dann noch mal zwei Tage Bangkok und am achten März wieder nach Hause“. “Mir bleiben jetzt noch 14 Tage Samui und zweieinhalb Tage Bangkok“.
Sie ignorierte das Bierglas, nahm einen Schluck aus der Flasche und sah mich ernst an. Dann sprudelte es nur so aus ihr heraus. “Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn du plötzlich ohne Pass, Tickets und Geld da stehst. Ich war so was von fertig! Zuerst habe ich nur völlig verzweifelt da gesessen, dann bin ich zur Rezeption und habe gefragt, was ich tun soll. Die Mädchen dort waren ja so lieb, haben gleich herum telefoniert bei der Polizei in Nathon, in Maenam, in Bophut, überall, wo ich gesagt hab, wo ich war. Nichts. Wir versuchen es morgen noch mal, haben sie mich getröstet. Aber ich solle auf jeden Fall die deutsche Botschaft in Bangkok anrufen und den Passverlust melden. Wenn meine Sachen nicht gefunden werden, brauche ich ja einen provisorischen Reisepass zur Ausreise. Und natürlich die Airline informieren. Und bei der Polizei Anzeige erstatten wegen Diebstahl, könnte ja auch sein, dass mir die Tasche geklaut worden ist. Und ob ich denn überhaupt noch Geld hätte. Ich sage dir, die waren echt lieb“.
Es war hinreissend, wie sie ihre Verzweiflung zum Ausdruck brachte. “Und dann haben mir noch Nadine und Roger, das Schweizer Pärchen vom Nachbarbungalow, unheimlich geholfen. Die haben mich mit ihrem Jeep zur Polizei, zum Airport und zur Bank gebracht, weil ich überhaupt nicht mehr zum Autofahren fähig war, ein paar tausend Baht, die ich in Bangkok umgetauscht hatte, waren Gott sei Dank noch in meiner Hemdtasche. Und glücklicherweise, aber frag mich nicht warum, hatte ich auch meinen Führerschein, den Mietvertrag und die Papiere für den Mini separat in meiner Umhängetasche. Oh Gott, wenn ich die beiden nicht gehabt hätte! Peter, ich bin dir so dankbar, dass du mir meine Tasche gebracht hast, dazu noch mit vollständigem Inhalt. Du hättest dir ja genauso gut das Geld einstecken und den Rest wieder wegwerfen können”.
“Marie, ich hab mir den Inhalt deiner Tasche angeschaut und festgestellt, dein Reisepass ist für mich als zweite Identität aufgrund von Geschlecht und Alter schon mal unbrauchbar, ein Rückflugticket habe ich selbst, deine Traveller Cheques kann ich nicht einlösen und Bargeld klaue ich erst ab 10.000 Euro. Die Tasche selbst hat mich am wenigsten begeistert, da habe ich eine Bessere. Also kann ich dir auch alles zurückbringen. So, und jetzt reicht es aber wirklich mit der Dankerei”.
Während ich das sagte, verriet ihr Gesichtsaudruck, dass sie überlegte, ob ich das wirklich ernst meinte und musste wieder lachen. “Und wenn 9.900 Euro drin gewesen wären, die hättest du nicht geklaut?”, fragte sie schelmisch. “Hmm”, druckste ich ein wenig herum, “ehrlich gesagt, allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht“. “Cooler Spruch, sollte ich mir merken“, schmunzelte sie, “wer hat das gesagt?”. “Oscar Wilde”. Leicht nachdenklich schaute sie mich an. “Die ganze Zeit rede und rede ich und du sagst so gut wie gar nichts“. “Ich höre dir zu und schaue dich an. Damit bin ich voll ausgelastet”.
Endlich sprach sie mal von etwas anderem als ihren verlorenen Papieren. “Peter, du weisst alles über mich, Name, Alter, Wohnort, Beruf. Von dir weiss ich nur, dass du Peter aus Deutschland bist. Ist doch unfair, oder? Erzählst du mir ein bisschen von dir?”. “Klar, ist ja kein Geheimnis. Aber viel zu erzählen gibt’s da nicht. Ich wohne, bei staufreier A5, nur zehn Autobahn-Minuten von dir entfernt in Bad Nauheim,...”. “Hey, da sind wir ja praktisch Nachbarn!”, rief sie dazwischen. “...habe mich nach dem Abi mit verschiedenen Jobs durchs Leben geschlagen, irgendwann mal Grafik und Design studiert, war mal ein paar Jahre in der Werbeabteilung eines US-Konzerns in Deutschland und arbeite seit fünfzehn Jahren selbstständig als Grafiker. Das heisst, so eine Art Werbeagentur als One-man-show. Bin seit zwei Jahren geschieden und lebe und arbeite allein in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung oben unterm Dach. In einem Zimmer steht mein Bett, im anderen mein Schreibtisch, alles in allem ziemlich trostlos”.
“Wieso denn?”, unterbrach sie mich, “die Werbebranche stelle ich mir immer interessant, spannend und vor allem abwechslungsreich vor“. “Marie, ich habe keine millionenschwere Agentur, ich fahre weder einen Ferrari noch einen Porsche, sondern einen zwölf Jahre alten Peugeot 306. Ich habe keine halbnackten Mädels auf meinem Schreibtisch sitzen, trinke keinen Champagner zum Frühstück und lasse mir auch meinen Salat nicht von Fleurop bringen. Zur Zeit habe ich nichts zu tun, es gibt keine Aufträge, die Finanzmarktkrise tifft die Werbung zu allererst. Hier und da schreibe ich mal etwas. Ansonsten bin ich schwerpunktmäßig damit beschäftigt, meine Wohnung in Ordnung zu halten, ich muss kochen, putzen, waschen, bügeln, einkaufen, das ist schon fast ein Fulltimejob. Doch trostlos, oder?”. Den Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand gestützt hatte sie mir interessiert zugehört und brachte nur ein nachdenkliches “Hmm“ heraus. “Schliesslich”, fuhr ich fort, “war ich die Herumhängerei leid und ausserdem seit Jahren nicht mehr im Urlaub, habe kurz entschlossen ein paar Sachen eingepackt, die Tür hinter mir abgeschlossen und jetzt sitze ich hier“.
“Also wie auch immer, ich beneide kreative Menschen, Künstler, Maler, Musiker, Fotografen und so. Mir bleibt in meinem Job nicht viel Spielraum für Kreativität, ich muss mich an die Regeln halten. Wie lange warst du verheiratet?”. “17 Jahre”. Sie war ehrlich erstaunt. “Wow! Ich habe mich vor sechs Monaten von Martin, meinem Freund, getrennt, das heisst, ich hab ihn rausgeschmissen. Wir waren fast vier Jahre zusammen. Aber meinst du, ich hätte gemerkt, dass er bei seinen wöchentlichen Sauftouren mit seinem Kumpels ständig etwas mit anderen Frauen hatte? Bis es mir eine Bekannte erzählt hat. Da habe ich ihn vor die Tür gesetzt. Seitdem bin ich auch allein. Ab und zu gehe ich mal mit meiner Freundin Sani aus zum Essen, ins Kino oder wir trinken irgendwo ein Bier oder drei, ansonsten verläuft mein Leben offenbar genauso unspektakulär wie deins. Warum trennt man sich überhaupt nach 17 Jahren Ehe?”.
Ich zuckte leicht mit den Schultern. “War nicht meine Idee. Vor drei Jahren, kurz vor Weihnachten, hat meine Frau mir gesagt, sie kann mich nicht länger ertragen und hatte sich schon ein Appartement in der Stadt gemietet. Packt ein paar Klamotten zusammen und weg ist sie. Irgendwann im April oder Mai kam sie und wollte die Scheidung. Ich zwar nicht, aber ich habe gesagt ‘Wenn es dich glücklich macht, bitte, aber ich kümmere mich um nichts.’ Sie hat alles mit ihrer Rechtsanwältin abgewickelt und auch alles bezahlt, ab und zu kam mal ein Brief oder Formular vom Familiengericht zum Unterschreiben und im Mai vor zwei Jahren war der offizielle Scheidungstermin beim Amtsgericht. Hat nur zehn Minuten gedauert”.
“Hm, eigenartig“, murmelte sie vor sich hin. “Habt ihr Kinder?”. “Nein, meine Frau hatte schon eine sechsjährige Tochter, als ich sie kennen lernte, aber die ist bei den Großeltern aufgewachsen, ich habe sie nicht allzu oft gesehen, obwohl ich das Sorgerecht für sie übernommen hatte. Vor ein paar Tagen haben wir uns nach über vier Jahren zum ersten Mal wieder getroffen. Wir sind spazieren gegangen, waren shoppen und ich habe sie zum Essen eingeladen. Ist eine richtig tolle junge Frau geworden“.