Elke Bulenda

Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen


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Skryrmir bei Fuß: »Numa! Er hat sein erstes Wort gesagt! Nicht Mama, oder Papa. Nein, er sagte den Namen des Kamels! Das ist mal wieder typisch für Ragnor. Er ist eben ein bisschen anders. Äh, sprichst du eigentlich immer mit ihm in deiner Sprache?«, fragte Skryrmir verwirrt.

      »Natürlich, seit Anbeginn. So können wir in der mir vertrauten Sprache reden. Warum sollte er sie nicht lernen? Ein Kind kann gar nicht genug Sprachen lernen.«

      »Hm«, sagte Skryrmir. »Offensichtlich hat ihn das ein wenig verwirrt. Ragnor, kannst du mir sagen, wer diese Frau ist?«, zeigte er auf meine Mutter.

      »Numa!«, sagte ich. Allerdings fragte ich mich, wieso er das nicht wusste. Schließlich wohnte sie ganz offensichtlich bei uns.

      »Nein, Ragnor. Das ist deine Mutter!«

      Numa schritt ein. »Das weiß er doch selbst! Nur sagen die anderen Kinder Numa zu mir. Aenna sagt Numa zu mir. Mathilda nennt mich beim Namen. Hackbart, Solveig, Merle und Margitta ebenso. Wieso sollte er mich dann anders nennen? Lass ihn Numa zu mir sagen, sonst verwirrst du ihn nur!«

      »Ach ja? Ich verwirre ihn? Ich glaube, es ist eher anders herum!«, stellte mein Vater klar. »Gut, Ragnor? Wer bin ich?«, wandte er sich zu mir.

      »Papa!«, sagte ich. Seinen Namen konnte ich nicht aussprechen. Für ein kleines Kind ist das der reinste Zungenbrecher.

      »Ja, das ist richtig, mein Sohn.«

      »Ja!«, sagte ich - und musste erst mal eine Weile darüber nachdenken. Wie alles, was die Erwachsenen taten, verwirrte mich das zutiefst. Vielleicht war es ihnen nicht klar, aber der eine sagte dies, der andere das. Jedoch achtete mein Vater wenigstens bei der kleinen Gundfreya darauf, dass niemand mit ihr in irgendeinem Kauderwelsch, außer dem Nordischen, sprach. Zudem sollten alle die kleine Gundfreya darauf hinweisen, dass Numa ihre Mutter sei. Also mussten sie ›Mama‹ sagen, wenn sie auf Numa zeigten.

      Und es kam so, wie Numa prophezeite. Nachdem ich erst einmal gelernt hatte, wie ich mit wem sprechen musste, fand ich das Sprechen ziemlich toll und redete munter drauf los.

      Im Spätsommer begaben wir uns dann endlich auf die große Reise nach Jütland. Die See faszinierte mich. Bisher fragte ich mich zwar immer, was hinter dem Fjord liegen mochte, doch hatte ich nicht erwartet, dass so viel Wasser dahinter lauerte. Spontan beschloss ich, ebenfalls den Beruf meines Vaters zu ergreifen. Doch bevor ich auf große Beutefahrt gehen konnte, musste ich erst einmal kräftig wachsen und trainieren. Mein Sparringspartner dabei, war mein älterer Bruder Balder alias Håkon, der zugleich mein Lieblingsbruder war. Übrigens war er der Lieblingsbruder aller schlechthin, weil er einmalig war. Eigentlich dachte jeder von uns, er wäre der bessere Stammesfürst geworden, aber laut Erbfolge, war der introvertierte Wulfgar dazu auserkoren. Balder kam zumindest mit jedem gut aus, stritt selbst kaum, schlichtete trotzdem bereitwillig jeden Geschwisterzwist. Mit ihm sammelte ich meine ersten Kampferfahrungen. Und er schritt auch stets ein, wenn mich meine älteren Schwestern mit dem Holzschwert fertig machen wollten. Sie durften ebenfalls mittrainieren. Numa fand, es stünde ihnen ebenso zu, mitzutrainieren, wie den Knaben. Zudem wurden wir schon früh auf die Gäule gesetzt und mit Pfeil und Bogen vertraut gemacht, auch wenn beides zur gleichen Zeit nicht so gut funktionierte wie bei Numa. Wir Jungs bekamen zudem den Auftrag, dafür Sorge zu tragen, genügend Feuerholz ins Haus zu schaffen. Das galt auch, als wir bei unserem Onkel überwinterten. Na ja, im Alter von drei Jahren ist die Ausbeute nicht so groß, wenn man mit der schweren Axt nach hinten kippt, anstatt vornüber das Holz zu spalten. Da Wulfgar viel älter war, durfte er das Brennholz machen. Trotzdem kamen wir nie mit leeren Händen heim. Wir erwiesen uns als geschickte und erfahrene Reisigsammler, obwohl wir uns lieber als Reisigjäger bezeichneten. Wir taten so, als erlegten wir das Reisig mit Speeren.

      Onkel Úlfur war weder so groß wie Skryrmir, noch so dick wie Hackbart, der übrigens mit von der Partie war, sehr zum Ärger von Numa, die hoffte, ihn mal für ein halbes Jahr nicht sehen zu müssen. Wir Kinder kannten Onkel Úlfur nicht besonders gut. Er war jünger als Skryrmir, hatte eine andere Mutter und besaß rotblondes, schütter werdendes Haar. Seine Kinder, unsere Cousin und Cousinen, waren durch die Bank weg lustige Gesellen, die förmlich vor Gesundheit und Sommersprossen strotzten. Nie zuvor sah ich so viele rotblonde Kinder auf einem Haufen, und das, obwohl sie verschiedene Mütter hatten. Zusammen mit uns acht Geschwistern, waren wir ein wildes Rudel raufender Gören.

      Die Erwachsenen gaben sich unterdessen eher langweilig. Ständig unterhielten sie sich, zumeist über Stammesangelegenheiten, die uns Kinder nicht scherten. Zudem drehte sich beinahe jedes Gespräch um Kaiser Karl, dem ehemaligen Frankenkönig.

      Genau, inzwischen war dieser nämlich vom dankbaren Papst zum Kaiser von Gottes Gnaden gekrönt worden. Von ihm drohte von Süden her keine besonders große Gefahr. Noch immer prügelten sich seine christlichen Truppen mit den widerborstigen Sachsen.

      Das Klima auf Jütland war viel milder, als bei uns im hohen Norden, was der kränklichen Svenja sehr gut bekam. Zudem mussten wir Kinder verwundert feststellen, dass der Winter in den Breitengraden von Jütland nicht mit absoluter Finsternis geschlagen war, so wie bei uns, weiter nördlich. Woran das lag, konnte keiner genau erklären. Onkel Úlfur vermutete, es läge an den Göttern, die die Sonne auf Jütland eben länger scheinen ließen. Allerdings gäbe es auf Jütland keine weißen Nächte, so wie bei uns, wo im Sommer nicht einmal zur Mitternacht die Sonne unterging.

      Selbstverständlich war Mathilda mit von der Partie. Immer öfter sahen wir sie zusammen mit Onkel Hackbart irgendwo sitzen. Die Nonne erzählte gerne von den Wundertaten ihres Gottes. Augenscheinlich war Hackbart der Einzige, der ihr aus freien Stücken zuhörte. Selten sahen wir ihn so andächtig lauschen, ohne seine penetranten Witze dabei zu reißen. Skryrmir duldete es nämlich keinesfalls, dass Mathilda uns Kindern von ihrem Christengott erzählte. Eins stand für ihn völlig außer Frage: Er gewährte ihr zwar, zu ihrem Gott zu beten, jedoch wollte er nicht, dass sie andere mit Bekehrungsversuchen nötigte. Das tat schon dieser Kaiser im Süden. Bei den Nordmännern hieß er schlechthin nur »Der Sachsenschlächter«, da er im Zuge der Christianisierung, in Verden an der Aller, ein Blutgericht abgehalten hatte und 4 500 Männer köpfen ließ, weil sie nicht den Christenglauben annehmen wollten. Einige behaupteten, Karl hätte sogar selbst mit Hand angelegt. Immerhin ist bewiesen, dass er eigenhändig eine Irminsul fällte. Nur, ob es dem angeblich sanften Christengott gefiel, von Karl so viele Männer geopfert zu bekommen? Odin hätte sicherlich ein solches Opfer zu schätzen gewusst.

      Ungefähr eine Woche nach unserer Ankunft, lief ein weiteres Langschiff in Esbjerg ein. Selten hatten wir Numa so aufgeregt gesehen, als sie erkannte, wer sich dort auf dem Schiff befand. Mir selbst war der komische Mann und dessen Familie nicht bekannt, bis Skryrmir erzählte, das wären Numas Eltern. Vater hatte ein Langschiff organisiert, welches sie von Hólmgarðr abholte, damit sie zu uns nach Jütland gelangen konnten.

      Ein Mädchen, ungefähr in Wulfgars Alter, war ebenfalls mit von der Partie. Es verwirrte mich zutiefst, als sie mir als meine Tante Samija vorgestellt wurde. Wie konnte jemand, der nicht älter als mein großer Bruder war, schon meine Tante sein? Das gab mir als kleinen Kerl recht lange zu grübeln. Dieser Gedanke trat jedoch in den Hintergrund, weil wir mit Samija prima spielen konnten. Übrigens schoss sie mit Pfeil und Bogen wesentlich besser, als wir alle zusammen. Gegen sie, wirkten wir wie blutige Anfänger.

      Mit meinem unbekannten Großvater Temudschin fremdelte ich ein wenig. Nie zuvor sah ich einen Menschen mit so zerknitterter Gesichtshaut. Nicht einmal Ylva hatte so viele Falten im Gesicht. Mit meiner Großmutter Ojuna kam ich besser klar, sie konnte fantastisch kochen. Zudem war sie hocherfreut, endlich mal mit jemanden in ihrer Sprache zu sprechen. Ich konnte meinem Vater ansehen, wie neidisch er war, als er mich mit meiner Oma palavern sah. Bekochen ließ er sich von ihr aber trotzdem. Das Seltsame an ihnen war, dass sie es ablehnten, mit uns in der Behausung von Úlfur zu wohnen. Stattdessen bauten sie im Hof eine Jurte auf. Diese Jurte fand ich äußerst interessant. Und wie es das Schicksal so wollte, würde dieser Anblick für mich bald unschöne Gefühle auslösen.

      *

      Ein Junge ist eine Haut, gespannt über einen Appetit; ein Lärm, bedeckt mit Schmutz.

      (Sprichwort)