target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_c1c8c415-681a-578e-b330-cd3a6b6a1d02">[18] Weiner, B. (2000), S. 13-28
2.2.6 Wertaneignung nach der Psychotherapieforschung
Auch Psychotherapieverfahren lassen sich als Modelle individuellen Wertwandels verstehen und nutzen. Dabei geht es nicht um eine „Psychotherapeutisierung“ des Lehrens und Lernens, sondern allein um die „Mechanismen“ des emotional-motivationalen Lernens, die dort existenziell sind und sich generalisiert auf andere Wertewandelsprozesse übertragen lassen. Deshalb wollen wir uns zunächst dem Zusammenhang von Psychotherapie und individuellem Wertwandel zuwenden. Um ihn zu verstehen, muss wiederum nachgezeichnet werden, wie Werte zu handlungsleitetenden Emotionen und Motivationen des Individuums interiorisiert werden und wie die entsprechenden psychischen “Mechanismen” solcher Aneignung beschaffen sind. [1] Zahlreiche Psychotherapieverfahren, so unsere Hypothese, sind als Modelle individuellen Wertwandels, auch individueller Wertentstehung, zu verstehen und zu nutzen.
Zunächst: Die “Suche nach Sinn” spielt auch außerhalb spezieller, sinnorientierter Therapieformen, insbesondere Frankls großartiger Logotherapie [2] eine wichtige Rolle: Uns “verstört und verunsichert die Frage nach dem Lebenssinn heute mehr als jemals zuvor. Denn es ist schwieriger geworden, im Werte - Chaos der modernen Gesellschaft Orientierung und Halt zu finden.”. [3]
Drei Beispiele , die besonders deutlich den Zusammenhang von Therapie und Wertvermittlung artikulieren, seien an den Anfang gestellt:
In einem generalisierenden Aufsatz “A Buyer’s Guide to Psychotherapy” stellt der Psychotherapeut Pittmann zusammenfassend fest [4]: “Die meiste Psychotherapie handelt nicht von mentaler Krankheit sondern von Werten - von Wertkonflikten vernünftiger und normaler Leute, die versuchen, ein Leben innerhalb großer personeller, familiärer und kultureller Verwirrungen zu führen.”
In ähnlich umfassender Weise sieht der Sozialpsychologe Kenneth Gergen mit seiner Theorie des “sozial gesättigten Ich” in Therapeuten “moderne Sinnstifter”, “Agenten eines bestimmten kulturellen Umfeldes”, die “mit den Klienten zusammen ihr jeweiliges Sinn‑System finden und wie es mit den Sinn‑Systemen anderer zusammenhängt...Die Herausforderung besteht darin, nicht in uns selbst nach uns eigenen Werten zu forschen, sondern sie in produktiven und bereichernden Formen von Beziehungen zu anderen Menschen zu finden.” [5]
Während die bekannten Gesprächspsychotherapeuten Annemarie und Reinhard Tausch in ihren frühen Arbeiten den Wertaspekt ihrer Tätigkeit eher anderer Terminologie subsummierten, enthält einer der späteren Anhänge ihres Standardlehrbuchs “Gesprächspsychotherapie” [6] nun den Abschnitt “Gesprächspsychotherapie: Eine Situation der Erleichterung von Umbewertungen der Klienten”. Anknüpfend an R. Lazarus’ emotiv - kognitive Therapie [7] stellen sie fest: “Viele Klienten kommen zu uns in Psychotherapie mit dem Wunsch nach Änderung ihrer belastenden Gefühle. Wenn Kognitionen (Bewertungen, wahrgenommene Bedeutungen) Gefühle zur Folge haben, und Änderungen der Kognitionen zu geänderten Gefühlen führen: dann können wir Gesprächspsychotherapie wesentlich ansehen als die Ermöglichung - Erleichterung von Um‑ und Neubewertungen bei den Klienten. Die Haupttätigkeit des Psychotherapeuten ist: dem Klienten optimale, nicht‑dirigierende Bedingungen zu schaffen, damit er diese Umbewertungen in einer für ihn wünschenswerten Weise vornehmen kann.” Dabei ist diese Einsicht keinesfalls auf die Gesprächspsychotherapie beschränkt, vielmehr können “kognitive Um‑ und Neubewertungen und damit dauerhafte Änderungen von Gefühlen und Verhalten ... durch verschiedenartige Erfahrungen ermöglicht werden.” [8]
Viele neuere Psychotherapievorschläge weisen in die Richtung einer “Integrativen Psychotherapie”. [9] Unabhängig von dem zuweilen überbordenden PR‑Aufwand hat auch das Neurolinguistische Programmieren einen solchen Charakter und ist in den Schritten “Ankern”, “Assoziieren - Dissoziieren” und vor allem dem “Reframing” klar als Umbewertungsprozess zu verstehen. [10]
Wir behaupten: Keines der gängigen und mehr oder weniger wirksamen Psychotherapieverfahren [11] steht außerhalb des Wertkontextes, ist lediglich wissensvermittelte Handlungsveränderung. Wir haben es vielmehr mit einem formenreichen, methodisch gründlich durchdiskutierten, umfangreich ausgearbeiteten Gebiet individuellen Wertewandels zu tun.
Nun bieten die meisten Psychotherapieverfahren eigene, zuweilen scharf voneinander abgesetzte Erklärungen für ihre Wirkungen an. Dem Betrachter fällt allerdings in der Überschau der unendliche Fülle von speziellen Verfahren und Erklärungsmustern auf, dass sich, unabhängig von ihrem jeweils spezifischen Verständnis im Rahmen einer Therapieschule, bestimmte Phasen bei allen Psychotherapieverfahren wiederfinden lassen. Es sind dies beispielsweise:
(A) Orientierungsphase 1 Die Annahme einer primär nicht‑organischen Verursachung der Symptomatik 5, eines emotional - motivationalen Fehllernens von Bewertungen in fernerer oder näherer Vergangenheit und eines daraus resultierenden aktuellen Fehlverhaltens - stets in einem bestimmten Kultur‑ und damit Wertkontext.
(B) Orientierungsphase 2 Die initiale und fortgeführte therapeutische Setzung von nicht allein verstandesmäßig bewältigbaren, kognitiv dissonanten und deshalb zu starken emotional - affektiven Labilisierungen führenden konflikthaften Situationen, Kommunikationen und Aktionen.
(C) Unzufriedenheitsphase Der aufgrund der Labilisierung erfolgende Eingriff in die lebensgeschichtlich tradierte, im Gedächtnis verankerte Komplementarität von wertend qualifizierendem Emotionssystem und quantifizierendem Kognitionssystem, ein Aufbrechen ihres Zusammenspiels.
(D) Lösungsphase1 Bei Therapieerfolg die Etablierung einer neuen gedächtnismäßigen Verknüpfung, eines neuen Zusammenwirkens von wertend qualifizierendem Emotionssystem und quantifizierendem Kognitionssystem.
(E) Lösungsphase 2 Die Begleitung des gesamten Therapieprozesses durch eine nicht bloß verstandesmäßige Kommunikation von Werten in Form einer Kommunikation von Emotionen und Motivationen.
(F) Produktivphase Eine veränderte Handlungsantizipation, gegründet auf das neu etablierte Zusammenwirken von wertend qualifizierendem Emotionssystem und quantifizierendem Kognitionssystem, und ein dementsprechendes physisches und/oder kommunikatives Handeln.
Die zunehmende Kommunikation der neu interiorisierten Werte außerhalb des Therapiezusammenhangs teils in rationalisierter Form, teils in Form geänderter Emotionen und Motivationen.
Abb. 8 Psychtherapeutischer Interiorisationsprozess
Im einzelnen liefern Beschreibungen zu diesen Grundelementen psychotherapeutischer Prozesse (A) bis (G) weitere wichtige, weiterführende Aufschlüsse zum generellen Interiorisationsprozess von Werten und damit zum Aneignungsprozess von Kompetenzen, wie sie aus allgemein emotions- und motivationspsychologischer Sicht in den Punkten (a) bis (g) bereits gewonnen wurden.
Zu (A): Der Verweis auf die individuelle Wertgeschichte betont, dass Werte und Kompetenzen in sehr unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Abschnitten