Peter Urban

Der Herr des Krieges Gesamtausgabe


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und überschätzte seine eigenen militärischen Fähigkeiten in keiner Weise.

      An diesem Abend erfuhr endlich der gesamte Stab und alle Kommandeure den Grund für sein geheimnisvolles Verschwinden in den Wochen nach Talavera und vor dem Abzug aus Spanien: Er hatte einen neuen, mächtigen Verbündeten gefunden, der gemeinsam mit den Alliierten gegen Massena, Victor, Soult, Ney, Mortier und die anderen ins Feld ziehen sollte: Die Fehler und Unzulänglichkeiten des französischen Versorgungs- und Nachschubsystems! Das schlimmste, was einer französischen Armee passieren konnte, war, daß sie aus irgendeinem Grund heraus zum Stillstand gezwungen wurde. Da die Marschälle kein organisiertes Nachschubwesen besaßen, das sie mit Verpflegung und Ausrüstung für die Soldaten und Futter für die Reit- und Zugtiere über lange Strecken versorgte, waren sie dazu verdammt, aus dem Landstrich zu leben, durch den sie zogen. Nur so lange die Einheiten, die ausgeschickt wurden um zu plündern, mit Beute nach Hause zurückkehrten, waren die Adler in der Lage weiterzumarschieren und weiterzukämpfen. Wenn es den Alliierten in Portu also gelingen sollte, Massena oder irgendeinen anderen Marschall mit einem machtvollen Hindernis zum Stillstand zu bringen, das völlig unüberwindlich war, dann mußte sein Gegner sich entweder zurückziehen oder verhungern. Viele der Anwesenden reagierten bestürzt, denn ihr Oberkommandierender hatte sie zum ersten Mal mit der Anzahl der Gegner konfrontiert. Andere waren verwirrt, denn sie konnten nicht begreifen, wie er es sich vorstellte, selbst wenn die Wälle von Torres Vedras 80.000 Franzosen der Andalusien-Armee blockierten, die 70.000 Soldaten von Andre Massena aus Leon und Kastilien mit nur 33.000 Briten und Portugiesen zu schlagen. Wellingtons gesamtes Feldheer war in diesem Augenblick nur wenig stärker als Marschall Neys französisches Korps, das in der Gegend von Ciudad Rodrigo aufmarschierte.

      Lediglich Rowland Hill und General Picton, der noch vor wenigen Wochen so energisch an den Fähigkeiten seines Oberkommandierenden gezweifelt hatte, begriffen die Vorgehensweise sofort. Nachdem Arthur die Besprechung aufgelöst und Kuriere mit Befehlen zu den Portugiesen, nach Lissabon und zu einigen verstreuten Regimentern in der Beira losgeschickt hatte, bedeutete er Hill und Picton die Gruppe der anderen unauffällig zu verlassen und mit ihm zu kommen: „Picton, ich habe einen Auftrag für Sie, den niemand hören sollte!“

      Der Waliser lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eine große Steinsäule im Salon des Castelo. Er war fast einen Kopf größer als Arthur und noch breitschultriger und massiver, als der Ire selbst. Picton hatte die Angewohnheit, nie seine Uniform zu tragen, sondern immer in farbenprächtiger und sehr exzentrischer Zivilkleidung aufzutauchen. Seine bevorzugte Waffe waren weder Säbel noch Pistole, sondern ein unförmiger, schwarzer Regenschirm. Er fluchte schlimmer, als jeder Londoner Kutscher und konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, nicht nur sehr laut, sondern auch sehr handgreiflich werden. Sir Thomas hatte einen absolut unmöglichen Charakter! Er fürchtete weder den Leibhaftigen noch seine Vorgesetzten. Wellington hatte die kleine Szene, die der Waliser ihm frisch nach seiner Ankunft aus England gemacht hatte, noch gut im Gedächtnis. Doch er mochte Offiziere, die Rückgrat besaßen und es wagten, sich ihm zu widersetzen, wenn sie im Recht waren und er im Unrecht. Picton schien genau aus diesem Holz geschnitzt zu sein. „Also, Sir Arthur! Was kann die Dritte Division für Sie tun?”

      Wellington hatte sich mit ebenso verschränkten Armen an die Säule gegenüber der von Picton gelehnt und sah seinen walisischen General spöttisch an: „Gar nichts!“ Sir Thomas Reaktion entsprach exakt der Erwartung des Iren. Eine leichte Röte stieg in seinem Gesicht nach oben, er ballte die rechte Hand zur Faust, trat einen großen Schritt nach vorne und drohte: „Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, zum Teufel!”

      „Sch, sch! Nicht gleich so heftig, mein Freund! Ich nehme Sie nie auf den Arm! Sie sollen wirklich ‚Gar nichts’ für mich tun!” Arthur hatte sich nicht von seiner Säule weggerührt. Es war ja so leicht, diesen Vulkan Picton zum Ausbruch zu bringen. „Es tut mir leid, Sir Thomas, wenn ich Sie mit meiner Art verärgere, aber wir müssen beide noch lernen, wie wir miteinander umzugehen haben, nicht wahr?”

      Rowland Hill betrachtete seinen walisischen Kollegen und Lord Wellington amüsiert. Es war schwer sich zwei Charaktere vorzustellen, die einander noch stärker entgegengesetzt waren, als diese beiden Männer. Sie waren wie Feuer und Eis. Der eine extrovertiert, laut, überschwenglich und oft cholerisch, gewalttätig oder ungerecht und verletzend. Pictons Gedanken blieben niemandem verborgen, er trug sein Herz auf der Zunge. Der andere, auf den ersten Blick verschlossen, kalt, hart, beherrscht, kaum einer Gefühlsregung fähig. Arthur war so mißtrauisch, daß er nicht einmal der Heiligen Inquisition seine Gedanken anvertrauen würde, selbst wenn diese ihn bei lebendigem Leib häuten sollte. Und die meisten waren auch noch felsenfest davon überzeugt, daß er an Stelle eines Herzens ein Stück Eisen im Körper trug. Hill war schon seit Wochen neugierig, zu sehen ob zwei solche Gegensätze überhaupt in der Lage waren, miteinander zu reden oder gar zusammenzuarbeiten. Er setzte sich in einen Sessel, abseits des Schlachtfeldes und beobachtete gespannt weiter: Picton hatte die Arme wieder vor der Brust verschränkt. Er knurrte Arthur an: „Na los, Wellington! Lassen Sie uns feststellen, wie wir miteinander umzugehen haben! Wählen Sie die Waffen und den Ort!” In seinen Augen blitzte der Schalk. Die Sphinx fing an ihm zu gefallen. Es kam selten vor, daß Vorgesetzte in der britischen Armee die Worte ‚Lernen’ und ‚Umgang’ benutzten, wenn sie mit ihren Untergebenen sprachen. Sich für irgend etwas zu entschuldigen, kam noch seltener vor. Außerdem hatte der Waliser endlich gemerkt, daß sein Gegenüber in keiner Weise aggressiv war, oder sein wollte.

      „Können Sie einen Befehl nicht befolgen, Sir Thomas?” Arthurs Augen lächelten.

      „Perfekt! Ich bin sozusagen ein Experte auf diesem Gebiet, Wellington!”

      „Das habe ich schon gehört!”

      „Sie sind auch nicht gerade für Ihren Kadavergehorsam bekannt! In Indien ...”

      „Picton, lassen Sie uns doch nicht über die Vergangenheit sprechen!” Endlich, nach mehr als drei Monaten hatte der Waliser Dickschädel sein Kriegsbeil begraben. Arthur hatte geduldig auf diesen Tag gewartet, an dem der stolze und unbeugsame Tom von selbst und ohne Zwang auf ihn zukam. Er wollte, daß seine hohen Offiziere ihm Vertrauen entgegenbrachten und erwartete einen kameradschaftlichen Umgang miteinander. Einzelkämpfer und verbohrte Individualisten, die mit niemandem zusammenarbeiten konnten und wollten, waren Wellington ein Greuel. „Ich habe Craufurds Leichte Division zwischen dem Douro und der Sierra da Gata, entlang des Agueda stehen. Eine etwa 60 Meilen lange Front. Sie und die Dritte Division werden nach Pinhel abrücken, Lowry Cole und die Vierte Division nach Guarda! Verstehen Sie mich?” Der Gesichtsausdruck des Walisers änderte sich mit einem Schlag zu einem breiten Grinsen: „Sie sind ein durchtriebener Schurke, Wellington! Natürlich verstehe ich Sie. Weiß Craufurd Bescheid?”

      „Sobald er in Viseu eintrifft, sage ich es ihm! Nur der schreckhafte Lowry Cole und insbesondere Sir Brent Spencer dürfen hiervon absolut nichts erfahren. Ich brauche nicht Prinnys Intuitionen und Ideen aus dem fernen London, um mich mit Massena herumzuschlagen und schon gleich gar nicht technische Unterstützung von solchen militärischen Genies wie Dalrympel, Stuart, Cathcart oder Burrard! Außerdem kann man mir die Nichtverteidigung einer Festung als einen Akt der Sabotage auslegen! Dafür gibt es dann gemäß dem britischen Disziplinarkodex pünktlich um fünf Uhr morgens vor einer grauen Mauer zwölf Kugeln aus nächster Nähe in die Brust! Aber wenn Almeida nicht fällt, wie bekomme ich Massena dann auf dem schnellsten Weg nach Bussaco?”

      „Verdammte Hofschranzen! Das heißt, wenn Massena bei Almeida durchbricht, dann werde ich Craufurd nicht zur Hilfe eilen und Sorge dafür tragen, daß Lowry Cole es auch nicht tut?”

      „Exakt! Wegen Lowry Cole brauchen Sie sich aber nicht sonderlich zu beunruhigen, Picton. Der rührt sich meist nur von der Stelle, wenn ich ihn an der Hand nehme und ihm ein Wiegenlied singe, damit er sich nicht zu sehr ängstigt. Bei Gott, ich hoffe, daß der Feind genauso zittert, wenn er die Namensliste meiner Generäle ließt, wie ich!”

      „Sie sprechen wohl von Sir William Erskine, von Lumley, Lightburne, Landers, Stapelton Cotton und den anderen Strafen des Himmels, die London Ihnen geschickt hat?” Picton fing an diesen irischen Hundesohn zu mögen. Vielleicht versteckte sich hinter der Sphinx ja doch ein Mann, mit dem man Geschäfte machen konnte! Wer