Gery Wolfsjäger

Casmilda's Gewinn durch Verlust


Скачать книгу

ihrer Vorstellung konnte überall jemand lauern, der ihr selbiges noch einmal antat. Sie hatte die Möglichkeit, diesen Gedanken ins Unterbewusstsein zu verdrängen, aber sie vermochte es nicht, diese Angst vollkommen auszulöschen. Trotz ihrer Lebenserkenntnis des Gewinnes durch Verlust fiel es ihr äußerst schwer, die alten Wunden loszulassen, bzw. daraus neue, bereichernde Erkenntnisse zu erzielen. Oft fühlte sich ihre Theorie speziell auf ihre eigene Situation bezogen ziemlich makaber und widersprüchlich an. Dennoch empfand sie ein wenig gönnerhaftes Wohlwollen unter ihrer harten Schale, da sie Casmilda eine neue Information mit auf den Weg gegeben hatte, die sie offensichtlich begeisterte. Somit war dieses Gespräch äußerst produktiv verlaufen, Casmilda hatte etwas dazugelernt und Valetta fühlte sich ein bisschen besser. Sie hatte Casmilda ein intimes Geheimnis anvertraut, über das außer ihrer Therapeutin bisher niemand Bescheid gewusst hatte. Und sie bereute es nicht, Casmy eingeweiht zu haben. Nun hatte sie eine zweite Ansprechpartnerin, mit der sie über ihre Ängste, die noch lange nicht überwunden waren, sprechen konnte. Außerdem empfand sie eine gewisse Erleichterung, von Casmilda nicht gefragt worden zu sein, ob sie die Polizei verständigt hätte, um den Vergewaltiger aufzuspüren und festnehmen zu lassen. Dass er sich wenige Tage später nach seinem gewaltsamen Akt erhängt hatte, brauchte sie nicht zu wissen, und Valetta wollte nicht darüber sprechen – zu viele Erinnerungen an Grausamkeiten konnte sie in diesem Moment nicht gebrauchen. Sie merkte ohnehin, wie rücksichtslos ihr die Realität der Erinnerung an den sexuellen Missbrauch ihre Kraft zu rauben schien, und erlaubte sich, in ihrem Kopf einen Ohrwurm entstehen zu lassen, der sie ablenken sollte. Manchmal störte es sie immens, dass gewisse Songs in ihr Bewusstsein drangen, aber es geschah meistens dann, wenn sie einen tief sitzenden Schmerz verdrängen wollte, so wie jetzt in diesem Moment. Doch die Lieder trugen Botschaften, die ihr Unterbewusstsein mit der aktuellen Situation verglich. Valys Gedanken wählten „Let it be“ von den Beatles, der Situation nach zu urteilen war das kein Zufall. Ab und zu schien es Valetta, als könnte sie ihre Gedanken und Gefühle nicht kontrollieren, ebenso wie die Ohrwürmer, die einfach aus dem Nichts in ihrem Bewusstsein aufflackerten.

      Um 15 Uhr verdunkelten sich langsam die Wolken, und es begann zu regnen und zu donnern. Valetta wurde von kühlen Regentropfen aus ihrer Illusion der beruhigenden Beatles-Melodie gerissen, als auch Casmilda sich schließlich von der Bank erhob und beschloss, das Gedankenspiel über ihre neue Lebensphilosophie zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Valetta fluchte, weil sie sich über derartige Witterungsverhältnisse prinzipiell ärgerte, und sie in ihrer emotional immer noch aufgewühlten Situation das Gefühl hatte, im wahrsten und auch symbolischen Sinne ein begossener Pudel zu sein. Casmy hingegen empfand Gewitter als etwas Interessantes, ja, sie liebte sie, weil sie ihres Erachtens nach zeigten, dass auch die Natur einen Charakter besaß, den diese auslebte. Behände schnappte sie sich ihre Handtasche, nahm Valy intuitiv bei der Hand, was sie noch niemals getan hatte, und so liefen sie gemeinsam zur U-Bahn, bereits ein wenig durchnässt.

      Die geplante, gemütliche Shopping – Tour fiel damit ins Wasser, man konnte es nicht treffender ausdrücken. Angesichts des aufwühlenden Gesprächs der letzten halben Stunde war es für Beide jedoch ohnehin das Beste, ruhige Gefilde aufzusuchen. Casmilda wollte für Valy da sein. Langsam und bedächtig stiegen sie die Stufen hinunter, die zur U-Bahn führten. Valetta bemühte sich um einen entwaffnenden Witz, als sie sich auf die Wartebank bei den Gleisen niederließen: „Na, Frau Haargenau, wo ist denn nun Ihr batteriebetriebener Fön und Ihre Rundbürste, um Ihre zerzauste Frisur in Ordnung zu bringen?“ Casmilda lachte laut auf, und warf den Kopf in den Nacken, doch ihr Lachen galt mehr der Freude, die sie empfand, weil Valy zumindest versuchte, für ein bisschen heitere Stimmung zu sorgen. Valetta lächelte kurz zurück. Casmy versuchte es zu verbergen, aber das Gespräch von vorhin wühlte sie immer noch sehr auf. Obwohl sie sich zwischenzeitlich abgegrenzt hatte, spürte sie in diesem Moment eine nachhaltige Wirkung der tiefen Besorgnis um Valetta in ihrem Herzen. Außerdem nahm sie sich für ihr eigenes Leben fest vor, Männer in Zukunft sehr genau zu beobachten und kennenzulernen, bevor sie mit ihnen den sexuellen Akt praktizierte. Als sie sich mit diesen Gedanken des Selbstschutzes auseinandersetzte, ließen langsam auch die roten Flecken auf der Stirn nach, die sich aufgrund ihrer emotionalen Befindlichkeit gebildet hatten. Trotz aller gut gemeinten Empathie, die sie für ihr Gegenüber aufgebracht hatte, musste sie sich eingestehen, dieses Abebben der Flecken der Konzentration auf ihre eigenen Bedürfnisse zuschreiben zu müssen.

      „Wie geht es dir ?“, fragte Valetta, als sie auf die U-Bahn warteten. „Bei aller Aufmerksamkeit, die ich von dir gefordert habe, fielen mir die roten Flecken auf deiner Stirn kaum auf, aber jetzt sind sie beinahe verschwunden.“

      „Mach' dir um mich keine Sorgen, mir geht es gut, und vor allen Dingen gut genug, um für dich da zu sein. Danke für dein Vertrauen, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben“, sagte Casmilda lächelnd, während sie ihrer Freundin mit einem wohlgemeinten Augenzwinkern sanft eine Hand auf ihre Schulter legte.

      „Das ist nett von dir“, erwiderte Valy kurz und blickte mit starren Augen in die andere Richtung. Casmy wusste jedoch, wie sehr sie sich über diese kleine Geste des Zusammenhalts freute, dies jedoch nach außen hin nicht zeigen wollte.

      Die U-Bahn rollte eine Minute später in der Station ein. Die jungen Damen wählten einen Platz in der Mitte des Waggons, wobei Casmilda ihre Überraschung kaum zu verbergen wusste, als Valy sich direkt neben sie setzte. Ein wenig verwirrt hob Casmy daher die Augenbrauen, als Valy sie verzweifelt ansah und kaum hörbar flüsterte: „ Ich brauche jetzt Nähe, und kann mir denken, wie seltsam dieser Wunsch wohl auf dich wirken muss, da ich in typischen Situationen ein kühles, abweisendes Verhalten an den Tag lege, aber glaube mir, das hier ist keine typische Situation.“ Ihr kühler Blick ruhte traurig auf Casmildas Augen, die am liebsten den Kopf geschüttelt hätte, um sich selbst innerlich aufzuwecken und daran zu erinnern, wie deutlich sich die Verhaltensweise ihrer Freundin von ihren sonstigen unterschied, bis ihr einfiel, dass Valy dieses Kopfschütteln vielleicht als Zurückweisung empfinden würde. Einfühlsam erwiderte Casmy den Blick ihres Gegenübers. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen. Schließlich öffnete Casmilda diese intuitiv ein wenig. Valetta tat es ihr gleich, als sie mit heftiger Wucht das Angebot der Geborgenheit entgegennahm, und sich einfach fallen ließ. Casmy beruhigte ihren Schrecken über das Ausmaß des festen Druckes, das sich in Valys haltsuchenden Fingern, die sich in Casmildas Fleisch der Oberarme gruben, ausdrückte, mit dem Gedanken, Valy würde den Druck verringern, sobald sie merkte, dass ihr Gegenüber sie nicht verletzte, so wie damals ihr sexueller Peiniger, sondern ihr einfach nur bedingungslosen Trost spenden. Wenige Augenblicke später lockerte Valetta tatsächlich ihre Finger. Casmy spürte die heißen Tränen an ihrem Hals, doch sie wischte sie nicht hinfort, sondern hielt vertraulich die Stellung, die ihrer Freundin nun gut tat. Casmy drückte sie fest zu sich und strich ihr über den Kopf, tröstete sie mit beschwichtigenden Worten, darauf bedacht, die neugierigen und missbilligenden Blicke der anderen Fahrgäste zu ignorieren. Auch für sie bedeutete es ein gewisses Maß an Überwindung, so viel Kraft für ihre Freundin aufzuwenden, da sie eine solch immense Forderung der Geborgenheit von Valetta ausgehend noch nie zuvor erlebt hatte. Und es überraschte sie immer noch ein wenig, dass Valys ach so harte Schale einen weichen Kern in sich trug.

      Es hatte aufgehört zu regnen, und den Rest des Nachmittags blitzten ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen vom Himmel herab, die die jungen Damen dazu einluden, die Restwärme des Tages bei einer Tasse Kakao im JWH auf der Terrasse zu genießen. Sie saßen einander auf einer großen, hölzernen Bank gegenüber. Casmilda begann zu träumen, als sie die rote Rosenhecke erblickte, die sich aus dem nahe gelegenen Garten des Nachbargrundstückes erstreckte. Marco würde mich niemals zum Sex zwingen, dachte sie bei sich.

      „Manchmal trieb mich dieses Schwein zu den grausamsten Selbstmordfantasien!“

      Valettas laute Stimme der Entrüstung riss Casmilda aus ihren Gedanken, die sie mit einem Kopfschütteln hinwegfegte, um Valy erneut ihr Ohr zu leihen. Doch sie wollte und konnte sich mit diesem Kapitel aus dem Leben ihrer Freundin nicht mehr auseinandersetzen, weil es ihre innerste Substanz auslaugte. Also wechselte sie das Thema.

      „Darf ich dich noch etwas fragen?“

      „Ja, okay“, brachte Valetta mit runzelnder Stirn und aggressiver Stimme hervor.

      „Wer ist diese