Gery Wolfsjäger

Casmilda's Gewinn durch Verlust


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weiteten, weil sie sich während ihrer Konzentration auf Valys Worte in ihre Lage versetzt hatte. Während des seelischen Beistandes musste sie sich jedoch emotional abgrenzen, um sich selbst zu schützen, da ihr diese Geschichte schier den Atem raubte.

      Casmy lockerte ihre Arme, die sie fest um ihren Körper gepresst hatte, um ihrem inneren Selbstschutz Ausdruck zu verleihen. Sie wollte am liebsten auch weinen, verdrängte jedoch ihren eigenen Schmerz des Mitgefühls, um ihrer Freundin eine seelische Stütze zu sein, also schwieg sie, unsicher und verzweifelt, weil sie nicht wusste, wie sie Valy helfen konnte. Der Widerspruch zwischen ihrem Wunsch, sie seelisch zu stützen, und nicht zu wissen wie, war ihr dabei deutlich bewusst, wobei sie diese Tatsache noch ein wenig verzweifelter stimmte, doch sie tat ihr Bestes, um Ruhe zu bewahren. Valy wurde unterdessen langsam bewusst, warum Tatjana sie an ihren damaligen sexuellen Missbrauch erinnert hatte. Als sie ihre Ex-Freundin bei Junk-Food-Mood versehentlich zu Boden geworfen hatte, wurden jene Erinnerungen in ihr wachgerufen. Valetta tupfte sich mit dem Taschentuch das tränennasse Gesicht ab und wandte sich wieder an Casmilda, die eine Erleichterung verspürte, weil sie scheinbar das Richtige getan , und nichts unternommen hatte, um Valy zu trösten. „ Dieses Erlebnis legte den Grundstein meiner Homosexualität“, erklärte sie mit zittriger Stimme. „Die Menschen lassen sich ständig darüber aus, was für ihr seelisches Wohlbefinden gut bzw. förderlich ist – sei es die Beziehung zu einem Mann, oder zu einer Frau, aber ich gehöre zu den Personen, die nicht unbedingt das Gefühl in sich aufkommen lassen, eine Wahl zu haben. Mein Vertrauen zu Männern ist jedenfalls gebrochen, das weiß ich. Frauen sind für mich Wesen, denen ich mich körperlich und seelisch hingeben kann, weil sie niemals in der Lage sind, mich mit einem männlichen Glied in einem der eben genannten Punkte zu verletzen. Das mag sich vielleicht seltsam anhören, aber es ist meine persönliche Wahrheit. Ich habe Angst vor Männern.“ Beim letzten Satz verbarg Valetta ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schämte sich, diese Angst laut auszusprechen, obwohl ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern kennzeichnete.

      Casmy versuchte, ihren Schock zu verbergen, der sich durch dicke Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichnete. Ihr fiel jedoch ebenso auf, wie viel Verständnis sie durch diesen Akt des Vertrauens ihrer Freundin gewonnen hatte.

      Nun schien sich alles aufzuklären: Valettas Mangel an Geduld, ihr resolutes, kaltes Wesen, ihre Aggressionen. Casmilda überkam erneut eine Welle des tiefen Mitgefühls für Valy, und sie hatte ein weiteres Mal begriffen, wie wichtig es war, niemanden für das zu verurteilen, was sein Dasein ausmachte, solange die Hintergründe für sein Verhalten unbekannt waren. Sie hatte Valetta niemals verurteilt, aber sich oft über ihr Auftreten gewundert. Doch sie begriff, dass Hintergründe sich als diese benannten, weil sie nichts Sicht – oder Greifbares darstellten, das für die Außenwelt bestimmt war, sondern einen sehr persönlichen Teil eines Menschen verkörperten, der seine Präsenz im Verborgenen ausdrückte. Hintergründe beschrieben ein intimes Geheimnis, und manche Leuten wussten gar nicht Bescheid, welch intensiven Einfluss dieser Teil auf sie ausübte, Tag für Tag. Valetta kannte ihren Schmerz, und dennoch fühlte sie sich dadurch nicht besser.

      Casmilda brachte ihren Rücken in eine gerade Lage, der während des Gespräches eine krumme Haltung der Traurigkeit angenommen hatte. Sie wollte mithilfe dieser Körperhaltung ihre Gedanken zum Fließen bringen, doch ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Nach langem Überlegen jedoch brach sie das Schweigen, das auch Valetta erreicht hatte. Sie wollte die Gesprächslücke füllen, da ihr die Stille nach einem Ausdruck solch heftiger Emotionen ein wenig Angst einjagte. Sie stellte Valy aufgrund ihrer Unbeholfenheit eine Frage, deren Insensibilität ihr in aller Deutlichkeit auffiel.

      „Wie…, war es, ich meine, wie kamst du damit klar?“, fragte sie schließlich, und bereute ihre Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte.

      „Wie bitte?“, entgegnete Valetta in schnippischem Ton. „Von Klarkommen kann doch nicht die Rede sein!“ Schließlich sah sie in Casmys Augen eine gewisse Hilflosigkeit, und versuchte, das Thema ein wenig lockerer zu betrachten, was ihr einerseits schwerfiel, andererseits die Stimmung, die zwischen ihnen herrschte, ein bisschen aufhellen sollte. „Mein Leben lang dachte ich, dass ich diese Existenz als Geschenk betrachten sollte, jetzt scheint es eher ein Gewinn durch Verlust zu sein!“ sagte sie in gespielt theatralischem Ton, und wippte ihre Hüften hin und her, um der dramatischen Situation ein wenig Komik zu verleihen.

      „Philosophierst du jetzt?“, fragte eine verwirrte Casmilda, die sich eine Haarsträhne hinters Ohr schob.

      „Nimm es, wie du es willst!“

      Gewinn durch Verlust - diese Worte faszinierten Casmy. Erneut entstand eine Gesprächspause, und für Casmilda eine gewisse Weile, die sie wieder einmal zum Nachdenken nutzte. Wenn sie Valettas Worte richtig interpretierte, bedeutete es, die Sichtweise eines Geschenkes in der eigenen Wahrnehmung zu verändern. Da kam ihr ein Geisterblitz.

      „Oh, ich habe gerade eine interessante Eingebung“, rief Casmilda laut aus, und hob ihren rechten Zeigefinger geradewegs zum Himmel gestreckt, „du willst also damit sagen, dass das Leben für dich ein Geschenk war, und du einige Dinge verlieren musstest, um dieses Geschenk erneut als Gewinn betrachten zu können!“

      „Richtig!“, entgegnete Valetta in beinahe gleichgültigem Ton, weil dieses Detail für sie als selbstverständlich galt. „Um genau zu sein bin ich noch immer damit beschäftigt, dieses Phänomen zu verstehen. Ich war bereits in einer Psychotherapie, die mich wieder ein Stück weiter zu mir selbst gebracht hat, und dennoch erarbeitete ich mir mit dieser Philosophie sehr viele neue Einstellungen, die ich heute gut in mein Leben integriert habe, ganz unabhängig von den therapeutischen Sitzungen. Aber ich will jetzt nicht mehr darüber sprechen. Ich kann dir nur eines sagen“ - bei diesen Worten stand sie auf, legte sich ihre Tasche leger über die rechte Schulter, und blickte Casmilda durchdringend an - „ wenn du etwas in deinem Leben verändern möchtest, musst du genau die inneren Überzeugungen loslassen, sozusagen, verlieren, die dafür sorgen, dass du an einem gewohnten, meist lähmenden Verhaltensmuster festhältst. Dieser befreiende Akt wirkt jedoch vorerst wie eine innere Katastrophe und Leere, weil kein Halt anwesend ist, an den du dich klammern kannst.“

      Valy bemühte sich um einen autoritären, belehrenden Tonfall, merkte aber bei den letzten Worten, wie brüchig sich ihre eigene Stimme anhörte. Sie hielt kurz inne, holte tief Luft, und sprach weiter: „Aus diesem Verlust jedoch entstehen neue Ideen und Konzepte für dein Leben, somit lohnt es sich, zu verlieren, denn der Gewinn ist darin enthalten.“

      Casmilda lächelte zufrieden, als sie diese Worte vernahm. Ein Anflug schlechten Gewissens durchfuhr sie, und sie legte besorgt eine Hand auf ihre rechte Wange. Sollte sie jetzt nicht eigentlich bestürzt und besorgt um ihre Freundin sein, die ihr gerade ihr Herz ausgeschüttet hatte? Nichtsdestotrotz verstand sie, wie wenig hilfreich ein solch schlechtes Gewissen war, es half weder ihr selbst noch Valetta. Sie wusste, sie konnte diese Lebensweisheit gut gebrauchen, sie schien wie ein Rezept gegen gewisse psychische Leiden zu fungieren.

      Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ein Schmetterling und setzte sich auf Casmildas Nase. Sie musste heftig niesen. „Ich gewann eine Berührung, und befreite mich dadurch von Viren, und diesen Verlust kann ich positiv für mich verbuchen, da ich diese Krankheitserreger sowieso nicht mehr brauche!“, rief sie wie von Sinnen, als sie freudig in die Hände klatschte und zufrieden grinste, bevor Valy „Gesundheit“ sagen konnte.

      „Hör’ jetzt bitte auf mit deinen Philosophien, ich habe diesen sexuellen Missbrauch als demütigend empfunden, daher wirkt die Theorie des ,Gewinnes durch Verlust' im Zusammenhang mit einem Schmetterling nicht unbedingt sehr einfühlsam!“ Valetta hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und blickte ein wenig verärgert auf Casmy hinab, die bei diesen Worten ihre Arme verschränkte, und den Kopf senkte, während sie immer noch auf der Bank saß.

      „Entschuldige, du hast recht!“, erwiderte Casmilda. Doch innerlich freute sie sich weiterhin über ihre neu gewonnene theoretische Erkenntnis. Valetta hingegen fühlte, wie das Durcheinander ihrer Emotionen sich auf ihrer Stirn in Form von dicken Schweißperlen ausdrückte, die von der lauen Märzsonne vergrößert wurden. Sie wusste, wie schwierig es war, in der Gesellschaft weiterhin gut zu funktionieren, und diverse Rollen zu spielen, die das Leben ihr abverlangte, da die Vergewaltigung Tag