verhält sich Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG gleichwohl nicht[411]. Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG als Ausgestaltung eines „nationalen Stabilitätspakts“ zu bezeichnen[412], erscheint vor diesem Hintergrund euphemistisch[413]. Im Ergebnis haben die Föderalismusreformen der Jahre 2006 und 2009 an dieser Stelle nicht wesentlich über die einfachrechtliche Rechtslage gemäß der Vorschrift des § 51a HGrG a.F. hinaus geführt, derzufolge der Finanzplanungsrat unverbindliche Empfehlungen zur Haushaltsdisziplin und zu den Ausgabenlinien von Bund und Ländern geben konnte. So ist auch nach dem neuen § 51 HGrG die Aufgabe des Stabilitätsrats in diesem Zusammenhang darauf beschränkt, Bund, Länder und Gemeinden zur Koordinierung ihrer Haushalts- und Finanzplanungen zu beraten und diesbezügliche Empfehlungen auszusprechen, ohne aber verbindliche Vorgaben machen zu können (Rn. 185). In gewissem Umfang wird die Problematik der innerstaatlichen Aufteilung der europarechtlich vorgegebenen Verschuldungsspielräume dadurch relativiert, dass Art. 109 Abs. 3 GG der strukturellen Nettoneuverschuldung von Bund wie auch Ländern klare Grenzen setzt (Rn. 226). Gleichwohl bleiben die europarechtlichen und die grundrechtlichen Grenzen insoweit unabgestimmt. Insbesondere wird die Nettoneuverschuldung der Gemeinden, Sozialversicherungseinrichtungen und anderer, dem öffentlichen Sektor zuzurechnender Rechtsträger im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts berücksichtigt, durch Art. 109 Abs. 3 GG aber grundsätzlich nicht beschränkt.
169
Der zweite Halbsatz des Art. 109 Abs. 2 GG verpflichtet Bund und Länder, innerhalb des durch Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG gesetzten Rahmens den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Die Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht war erstmals durch die Haushaltsrechtsreform 1967/69 in das Grundgesetz eingefügt worden; die Föderalismusreformen der Jahre 2006 und 2009 haben diese Verpflichtung auch auf verfassungsrechtlicher Ebene in den Rahmen der europarechtlichen Anforderungen gestellt. Die Verpflichtung des Staates auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht beruht auf der in den 1960er Jahren[414] in den Vordergrund gerückten Vorstellung, dass der Staat mittels wirtschaftspolitischer Globalsteuerung[415] erheblich auf die Konjunktur Einfluss zu nehmen imstande ist. Diese, gerade auch mit Blick auf die Höhe der Staatsquote unterstellte Fähigkeit[416] sollte durch die Einfügung von Art. 109 Abs. 2 GG zur Konjunktursteuerung aktiviert und auf das Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hin ausgerichtet werden[417].
170
Normstrukturell handelt es sich bei Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG um eine Staatszielbestimmung[418], die rechtsverbindlich verlangt, die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu berücksichtigen. Als Staatszielbestimmung konkretisiert Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG nicht nur das Sozialstaatsprinzip[419] und das Rechtsstaatsprinzip als Garantie materieller Gerechtigkeit[420]; vielmehr stützt die Norm darüber hinausgehend den Fortbestand der staatlichen Rechtsgemeinschaft in ihren wirtschaftlichen Grundlagen als solchen ab.
171
Die Regelung betrifft jegliches Staatshandeln, das Bedeutung für das gesamtwirtschaftliche Gleich- oder Ungleichgewicht haben kann, primär freilich die Haushaltswirtschaft einschließlich der Bewirtschaftung der Sondervermögen[421]. Als Staatszielbestimmung ermöglicht Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG eine Abwägung mit anderen Verfassungsprinzipien[422] wie etwa dem Umweltschutz (Art. 20a GG) oder auch der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG), soweit diese nicht schon dem Gleichgewichtsbegriff des Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG selbst immanent ist. In der Sache ist die Zielorientierung ebenso wie die Abwägungsfähigkeit in der Rechtsfolgenanordnung aufgenommen, nach der den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts „Rechnung“ zu „tragen“ ist. Soweit andere Bestimmungen des Grundgesetzes (insbesondere Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG) zwingende Regelungen treffen, können diese nicht unter Berufung auf Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG umgangen werden[423].
172
Wie auch im Rahmen von Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG stehen die Bundesglieder im Rahmen von Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG in je eigener Verantwortung. Insbesondere ergeben sich aus der Verpflichtung, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, für den Bund keine originären Aufsichts- oder Weisungsbefugnisse gegenüber den Ländern[424]. Soweit dem Bund allerdings verfassungsrechtlich anderweitig vorgesehene Instrumente zur Verfügung stehen, um auf die Länder Einfluss zu nehmen, wie etwa die Grundsatzgesetzgebungskompetenz nach Art. 109 Abs. 4 GG, kann die Staatszielbestimmung des Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG das Handeln des Bundes den Ländern gegenüber inhaltlich anleiten[425]. Ein Sonderfall ist der Fall der extremen Haushaltsnotlage eines Bundesgliedes, in dem das Bundesverfassungsgericht Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG in Verbindung mit anderen Verfassungsbestimmungen herangezogen hat, um solidarische Hilfspflichten zugunsten des in Not geratenen Bundesgliedes zu begründen[426].
173
Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG bietet auch keine eigenständige Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in Rechte des Bürgers, etwa durch Preis- oder Lohnregelungen oder auch durch Maßnahmen der Investitionslenkung[427]. Wohl aber kann die Norm bzw. das ihr zugrunde liegende Verfassungsgut ergänzend zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden[428]. Individualrechte des Bürgers auf Einhaltung der Staatszielbestimmung begründet Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG nicht.
174
Den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist in dem Rahmen Rechnung zu tragen, der durch die Verpflichtungen gemäß Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG gesetzt wird. Dies schließt Maßnahmen aus, die der Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dienen sollen, dabei aber gegen die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts verstoßen, wie beispielsweise eine antizyklische Konjunktursteuerung, die zu EU-rechtlich untersagten Defiziten führt oder diese verschärft[429].
175
Nach Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG muss das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in diesem Rahmen als Zielsetzung in die staatlichen Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden[430]. Dies präjudiziert zwar in aller Regel keine bestimmten Ergebnisse. Unzulässig wäre es aber, die Zielsetzung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bei der Entscheidungsfindung zu übergehen. Die Anforderungen an die Erwägungen und auch Darlegungen[431] sind dabei grundsätzlich umso höher, je größer das von einer Entscheidung betroffene Finanzvolumen ist[432]. Das Grundgesetz verlangt damit und in diesem Umfang eine aktive staatliche Gleichgewichtspolitik[433], erteilt einen ausdrücklichen stabilitätspolitischen Auftrag. Dies umfasst auch stetige Beobachtungs-, gegebenenfalls Nachbesserungs- und Korrekturpflichten[434].
176
Der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist ein Begriff der ökonomischen Theorie. Als bewusst[435] unbestimmter Verfassungsbegriff[436] steht er eigenständig, ist aber einer einfachrechtlichen Konkretisierung zugänglich, die auf die ökonomische Theorie Bezug nehmen kann und sollte, ohne die Interpretationshoheit damit aber ausschließlich den Wirtschaftswissenschaften zu überantworten[437]. Eine solche Konkretisierung nimmt die – zum Kreis der Grundsätzenormen im Sinne von Art. 109 Abs. 4 GG gehörende – Bestimmung des § 1 Satz 2 StWG vor[438]. Wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen sind danach mit Blick auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts so zu treffen, dass sie „im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“[439]. Während die gleichzeitige Erreichung aller vier in § 1 Satz 2 StWG genannten Teilziele kaum zu realisieren ist (deshalb „magisches Viereck“), muss das Bemühen doch jedenfalls darauf gerichtet sein, den verschiedenen Zielen in einem dynamischen Prozess über die Zeit hin möglichst nahe zu kommen, wobei das eine oder andere Ziel je nach konjunktureller Lage in den Vorder- oder Hintergrund treten kann. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und die einzelnen, in § 1 Satz 2 StWG herausgehobenen Indikatoren sind dabei, auch soweit Art. 109 Abs. 2 HS 2 GG die Länder