Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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Bissen Brotes, den sie unterm Arm getragen, oder andere gottlose Zaubermittel eine Jungfrau um den Verstand bringen und wie einen Hund von sich abhängig machen können, daß die Behexte im Schlaf und Wachen keine Ruhe findet und an einem innern Brand sterben muß?«

      »Aus wieviel hundert Altweiberstuben hast Du doch Deine närrische Wissenschaft zusammengeschleppt! Entschlage Dich des Unsinnes. Ein schönes Haus muß kein Lumpen-Magazin sein, und ein gesunder, frommer Sinn, wie der Deine, nicht vor dem Gerümpel des Aberglaubens Schildwacht stehen.«

      Indem er dies mit Unwillen und Lachen sagte, ließ sich an der Thür leises Pochen hören und er ging, nachzusehen. Änneli stand draußen und sprach: »Mir graut, mit Leonoren allein zu sein. Sie redet aus dem Schlafe wunderliche Dinge. Darf Fania nicht neben mir wachen?«

      Addrichs Miene zog sich plötzlich wieder finster zusammen. Er winkte Epiphania und sie gingen insgesamt zur Kranken.

      19.

       Schwanengesänge.

       Inhaltsverzeichnis

      Die beiden Mädchen schwebten so leise wie ein Schatten in Leonorens Gemach hinein. Der Alte ließ die dickbesohlten Nagelschuhe vor der Thür stehen. Von dem Tischchen am Bett ergoß die brennende Lampe bleiche Strahlen durch das Zimmer. Die Mädchen setzten sich in einen Winkel enge zusammen, als wollten sie durch größere Nähe einander stärkeren Mut machen. Addrich trat zum Bette. Das Erbeben seiner breiten Brust und seiner Achseln verriet die Tiefe des Seufzers, der sich ihm entwand, während er den großblumigen Bettvorhang, der das Antlitz seiner Tochter verschattete, sanft zurückstreifte.

      Sie lag da mit geschlossenen Augen, wie ein Gebilde von Alabaster, auf welches ein mattrötliches Licht fällt. Sie atmete sichtbar; jedoch die starre Ruhe ihrer schönen Züge verkündete den Bruch des Geistes mit einem Leben, in welchem sie nichts mehr ansprach und berührte. Als wäre die Welt für diese Augen von jeher licht- und luftlos und für diese Ohren von jeher stumm gewesen, so kalt und abgeschlossen war jede der eingesunkenen, unbeweglichen Mienen.

      Addrich zog sich nach dem Fenster zurück, stützte die Arme auf das Gesims und legte sein Gesicht in die flachen Hände. Es herrschte eine lange, schauerliche Stille, als wäre mit Leonoren alles Leben auf Erden vergangen. Die beiden Mädchen saßen, mit auf die Brust gesenkten Häuptern und gefalteten Händen, in betender Stellung da.

      Dieser peinliche Zustand mochte fast eine Viertelstunde gewährt haben, als Änneli und Epiphania zugleich horchend die Köpfe emporhoben. Sie vernahmen vom Bett her die Lippen der Kranken flüstern. Epiphania eilte dahin und legte ihr Ohr an die Lippen, wandte sich aber gelassen und ernst wieder nach ihrem Platze und sagte leise zu der Gesellschafterin: »Sie beginnt gewiß wieder mit ihrem Gesange.«

      Es scheint, daß Addrichs Tochter das Opfer einer jener Krankheiten wurde, welche noch heutigen Tages durch ihre wunderbaren Erscheinungen den Verstand der Zuschauer in Erstaunen setzen und die Kunst der Ärzte zur Verzweiflung bringen. Das alte Griechenland dankte denselben Aussprüche der Götter durch den Mund der Priesterinnen Apollons und Jupiters; aber die an den Wasserflüssen Babylons entarteten Kinder Israels erkannten in denselben nur Schelmenstreiche des Satans. Weil die Christen den jüdischen Sauerteig für unerläßlichen Zusatz zum reinen Brote des Lebens hielten, mußte sich auch Addrichs Tochter gefallen lassen, im Volk als eine vom bösen Geist Besessene zu gelten. Die Sagen, welche über Addrich umgingen, schienen dies noch mehr zu bestätigen, als die mutlosen Verzichtleistungen der Ärzte, die der Vater weit umher vergebens angerufen hatte, auf Rettung seiner Tochter. Würde Addrich, nachdem er sich von den Priestern Äskulaps verlassen sah, die ehrwürdigen Väter Kapuziner eines benachbarten Klosters zu Hilfe gerufen haben, um den Teufel zu beschwören, so wäre er in Stadt und Land vielleicht wieder zu dem guten Ruf gekommen, Religion zu haben. Er hatte jedoch dieses Mittel verschmäht, nicht eben, weil er zur Kirche Zwinglis gehörte, denn solchen Glauben bewahren viele evangelische Bauern im Gebirge auch heute noch, wie damals, als einen geheimen Glaubensartikel. Doch Addrich schien von Grund aus ein arger Freigeist zu sein. So blieb denn die unglückliche Eleonore in der Meinung des großen Haufens als eine Besessene verschrien, während sie im väterlichen Hause für einen Engel gehalten wurde, der zuweilen Überirdisches ausplaudere, oder doch nichts Geringeres zu sein schien, als einst Priams weissagende Tochter Kassandra dem Altertum.

      Ihr anfänglich leises Geflüster hatte, wie es bei dieser Krankheit zu den gewöhnlichen Erscheinungen gehört, nach und nach hörbaren Ton angenommen; er erklang jedoch so leise, daß man ihn kaum deutlich wahrnahm. Gleich den sanftberührten Glocken einer Harmonika, deren anfangs kaum vernehmbarer Laut unter dem steigenden Druck des Fingers unmerklich bis zur Erschütterung der Nerven anschwillt, so wurde die Stimme der Schläferin allmälig zu einem milden, zwischen den Lippen summenden Gesange, eine Weile unverständlich, zuletzt heller und deutlicher, mit bestimmt gegliederten Tönen und Worten.

      Die Todesstille der mitternächtlichen Stunde und die matte Beleuchtung aller Geräte und Verzierungen des Zimmers von dem Scheine der kleinem Lampe vermehrten das Grauenhafte eines Gesanges, der unwillkürlich aus der Brust der Schlummernden hervorzukommen schien. Die Stimme war unaussprechlich weich und süß, wie ein zartgehauchter Flötenton, aber die Sangesweise schwermütig und einförmig. Man verstand zuletzt folgende Worte:

      Am Himmel schweben Fahnen,

       Am Himmel, blau und weiß,

       Sie schweben lange Bahnen

       Herab zur grünen Reuß.

      Aar schüttelt breite Schwingen

       Vom Felsenhorst, der Aar,

       Er kreist in großen Ringen;

       Aar sucht die Leichenschar.

      Wo soll ich alle finden,

       Die mich so reu'n und freu'n?

       Sie gehn in Schattengründen,

       Die feuerroten Reih'n.

      Sie zieh'n den roten Bogen,

       Ihn bricht das böse Glück,

       Vor geh'n nun Feuerwogen,

       Ein Blutstrom geht zurück.

      Die letzten Silben verhallten fast, ehe sie den Weg zu den Ohren der Horchenden zurücklegten; die folgenden blieben ganz unverständlich; die Töne selbst wurden immer matter, bis sie sich endlich wieder in das unhörbare Gelispel der Lippen auflösten, mit dem sie begonnen hatten.

      Änneli fragte ihre Nachbarin flüsternd: »Hast Du alles verstanden? Sie redete von Krieg und Blutvergießen. Wenn die Toten singen, steht der Welt großer Jammer bevor; und ist Loreli nicht eine wahre Tote?«

      »Sei still!« erwiderte Epiphania. »Vielleicht vernehmen wir mehr.«

      Wirklich, es ließ sich abermals das leise Gelispel von Eleonorens Lippen hören, das nach mehren Minuten hörbar, zu Gesang und Worten wurde. Derselbe stilldurchdringende süße Klang der Kehle, wie vorhin; dieselbe wehmütig einförmige Sangesweise. Man vernahm folgende Worte:

      Vom rosafarbenen Munde

       Erlischt die Lebensglut,

       Die Jünglings-Purpurwunde

       Betaut das Gras mit Blut.

      Zu spät eilt Deine Hilfe,

       Er fühlt nun keine Pein,

       Er schläft auf dürrem Schilfe,

       Sein Kissen ist der Stein.

      Aus ist Dein Licht geblasen,

       Mit aller Hoffnung aus.

       Dein Kind deckt Dir der Rasen,

       Die Asche Dir das Haus.

      Auf ewig zog von hinnen,

       Was je Dein Herz gesucht.

       Mußt finden und gewinnen,

       Was Deiner Liebe flucht.

      Ruft Dich der Freudenbote