Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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mehr, sondern nur einen hinterlassenen Zettel mit den Worten: Suchet meinen Leichnam nicht; erbarmet Euch meines Kindes!«

      »Ich kenne die gräßliche Begebenheit; ich war, glaube ich, damals ein fünfzehnjähriger Knabe. Der Pfarrer nahm sich der kleinen Epiphania an. Erzähle nicht weiter.«

      »Man suchte ihn lange. Ich durchlief halb wahnsinnig die ganze Gegend und das ganze Gebirge. Ich klagte meine eigene Härte an. Erst sieben Wochen nachher erblickte ein Simmenthaler Gemsjäger Diethelms Hut in einem der Abgründe am Rawylgletscher, in dessen Nacht und Tiefe sich keiner hinunterwagen konnte. So war ich der Kain geworden, war es, ohne meine Schuld, und mein Schmerz war größer, als meine Schuld. Man legte mir aber mehr zur Last, als ich gesündigt hatte. Ich floh die feindselige Heimat zum zweitenmal, verkaufte all das meinige und siedelte mich im Moos an. Ich arbeitete Jahre lang, wie einst an der Sklavenkette des Afrikaners; aber es war für mein Kind. Ich rodete Wald auf, trocknete Sümpfe, machte Einöden urbar. Ich gewann durch Handel in Sempach, Willisau und Luzern. Ich kam zu Wohlstand, aber auch zum Ruf des Schatzgräbers, Straßenräubers und Bundesgenossen des Teufels. Für mein Kind, für die letzte und einzige meiner Freuden, hätte ich das mühseligste gethan, das härteste ertragen. Eleonore aber lebte nur Tage der Krankheit; jetzt lebt sie schon manche Woche nicht mehr, obgleich sie atmet. Meine Kräfte schwinden, Soll ich nicht das Ende meines Bruders Diethelm nehmen, so muß ich mich in großen Zerstreuungen berauschen und betäuben.«

      »Der Rausch der Empörung, Addrich, war der unseligste von allen, die Dir zur Auswahl frei standen.«

      »Meine Wege sind nicht Deine Wege, Bursche. Hättest Du, wie ich, in den Grund des Verderbens und Elends hinabgesehen, in welchem das Volk durch Regieren und Treiben derer niedergehalten wird, die von seiner Arbeit und Unkunde leben wollen: Du würdest keinen heiligen Rausch kennen, als den für Erlösung der Menschheit aus den Banden der Nacht und der Bestialität. Gehe, Du verstehst mich nicht; keiner versteht mich. Meine Sprache ist auf Erden nicht verstanden worden. Meine beste Tugend sieht aus, wie das Verbrechen. Als hinge ein verpestender Fluch an meinen Fingern, verdirbt und stirbt, was sie berühren, und der Atem meines Mundes zerfrißt selbst das sonst nie rostende Gold. Aber ich kann nun kein anderer sein, als der ich bin. Und wird die Welt durch nichts Göttliches von oben bewegt, will ich allein das Göttliche wider die Welt sein und das Licht über dem Wüsten und Leeren. Komme, Bursche, Du verstehst mich nicht; komme zu den Leuten; ich will wider Deine und ihre Sprache reden, damit Ihr alle nicht meinet, ich sei wahnsinnig, und auf daß Ihr mir keinen Vogt setzet, oder mich an die Kette schließet. Komm'!«

      Addrich sprang von der Erde auf und verfolgte mit großen Schritten den Fußweg über den Bergrücken. Fabian ergriff ihn im Gehen bei der Hand und sprach mit Herzlichkeit: »Addrich, Du eilst Deinem und Deines Landes Verderben entgegen.«

      Indem er dies sagte, schloß sich das Dickicht vor ihnen auf und eine weite, prächtige Landschaft entfaltete sich vor ihnen im Glanz der Sonne, mit Wiesen, Wäldern, Burgen, Dörfern und Flecken, umfangen vom Halbmonde des stolzen Juragebirges und durchwebt von den Wellen des vielgewundenen Aarflusses.

      »Schaue hinab, Addrich!« rief Fabian von der Almen. »Ist es göttlich, Mordfackel und Verwüstung in dies ruhige Eden zu werfen?«

      »Thor!« erwiderte der Alte. »Was nennst Du göttlich? Das Leben um uns her, oder den Staub daran und darum? Mögen doch Hütten und Kerker zu Asche werden, wenn nur die erlösten Sklaven zur Freiheit eingehen. Siehe die Wiesen, wie sie dem Frühlinge entgegengrünen; die Bergspitzen, wie sie den Schneemantel abstreifen, und die dürren Wälder, wie sie ihres Schmuckes gewärtig sind; soll nun das Menschengeschlecht allein den Winterschlaf, ohne einen Frühlingsmorgen, schlafen?«

      »Addrich, laß mich zum letzten Male . . .«

      »Ja, denn zum letzten Male. Ich will untergehen, oder das Edlere muß auferstehen!« Mit diesen Worten ging der Alte hastig in gerader Richtung bergab, einer mit Spießen und Morgensternen bewaffneten Schar Bauern entgegen, die sich am Suhrbache in langen Reihen gegen die Stadt fortbewegte.

      23.

       Der Landsturm.

       Inhaltsverzeichnis

      Fabian ließ den lärmenden Haufen vorübergehen. Er betrachtete nicht ohne Unruhe die bedrohte Stadt, welche ihre finstern Giebel und Türme mit furchtsamer Neugier über die Ringmauern hervorzustrecken schien, während die Ebene des Suhrfeldes, zwischen dem Gönhardhügel und dem Aarufer, von den aufrührerischen Banden wimmelte. Einige tausend Mann lagerten oder standen auf Äckern und Wiesen, in ungeordneten Rotten, oder liefen verworren durcheinander. Man hörte das Geräusch ihrer lauten Beratungen, welches dann und wann von Musketenschüssen und Trommelwirbel derer begleitet wurde, welche ihre kriegerischen Werkzeuge versuchen wollten. Als wenn sich die Bäume der dichten Tannenwälder in Menschen verwandeln könnten, so sah man aus deren Schatten sich immer neue Schlachthaufen ergießen, die mit ihren Fahnen die Zahl der Anwesenden vermehrten.

      Behutsam stieg der Jüngling von der Höhe hernieder und ließ sich von dem Bache, welcher seit Alters die Straßen und den Gewerbebetrieb Aaraus belebt, zur obern Vorstadt führen. Auch hier begegneten ihm schon in allen Gassen die trotzigen, kecken Gesichter des Landsturms. Auf dem Platze vor dem großen Löwen stand die Fahne von Rynach aufgepflanzt. Dort sah er das Gewühl der Bauern am dichtesten um einige Menschen, in deren Mitte einzelne derbe Stimmen vernommen wurden, wie sie bei Beratungen oder im Streite in der Regel laut werden. Als er das Gedränge bis zum innern Kreise durchbrochen hatte, erblickte er, unter vielen unbekannten, wilden Gesichtern, den über seine Nachbarn riesenhaft hervorragenden Addrich, und ihm gegenüber, neben einigen Ratsherrn der Stadt, den Junker Mey von Rued.

      »Somit haben wir Euch unsere Willensmeinung kund gethan,« sagte ein stattlich gekleideter Landmann, dessen Worten alle aufmerksam zuhörten. »Und für diese Meinung sind zehntausend Schwerter bereit, ihre Scheiden zu verlassen. Wir sind nicht wider Euch ausgezogen, Ihr Herren von Aarau, also sollet Ihr auch nicht wider uns stehen. Gestattet Ihr aber fremdem Volk den Zug durch Eure Stadt, so sollet Ihr ihn billig auch Euren Landsleuten nicht versagen. Feindliche Besatzung bei Euch dulden wir nicht. Wenn die Baseler und Mühlhausener nicht bis Mittag abziehen, werden wir dieselben angreifen und herausstäupen. Dann aber, Aarauer, kann niemand Bürgschaft leisten, daß die Wut des Volkes nicht über die Schnur haue. – Ihr wisset gar wohl, daß das Unglück breite Füße hat, und sich, wo es einmal steht, nicht leicht fortstoßen läßt. Also nehmet Eure Schanze wahr!«

      »Ihr Männer,« rief der Oberherr von Rued, »leihet mir noch einmal Euer Gehör, denn mein Innerstes erzittert, Euch in dieser beispiellosen Verblendung dem Abgrunde des Verderbens entgegentaumeln zu sehen. Wenn Euer guter Engel Euch plötzlich aus dem Rausche, in welchem Ihr jetzt ohne Überlegung umhertobet, zur nüchternen Besonnenheit wecken wollte, Ihr müßtet erschrecken, Euch vor Aarau zu erblicken, statt in der gewohnten Hütte bei Weib und Kindern; mitten im Frieden mit den Waffen in der Hand, statt in ländlichen Arbeiten geschäftig. Würdet Ihr nicht einander mit erstaunten Mienen fragen: warum oder durch welches Zauberspiel Ihr hier ständet, wie von einem Sturm zusammengewehet? Kommt nicht jedem von Euch, was Ihr höret und sehet, unglaublich vor, wie ein Traum?«

      »Ich glaub's,« rief einer aus dem Haufen, »es dünkt dem Junker ein Traum zu sein; uns aber nicht, denn wir sind eben wach geworden.«

      »Wenn Ihr denn wach seid,« fuhr der Oberherr fort, »so überlegt, wie Wachende; klettert nicht gleich Nachtwandlern beim Vollmond mit geschlossenen Augen und von Einbildungen verführt über die Firste der Dächer, statt auf gebahnter Straße zu bleiben. Was wollt Ihr? Ihr seid unzufrieden darüber, durch die Münzverordnung einige Batzen einbüßen zu müssen. Aber daß Ihr statt dessen durch die angerichtete Verwirrung und den Einzug fremder Soldaten Eure Felder brach liegen lasset, Eure Vorräte dem Raube, Eure Dörfer den Flammen, Eure Weiber und Kinder dem Elend und der Schande und Eure Leiber den tödlichen Kugeln preisgebt, damit seid Ihr zufrieden? – Was wollt Ihr? frage ich. Gesetzt, unsere hohe Regierung hätte in einigen Dingen gefehlt, so wäre es ein Irrtum gewesen, dem der Weiseste nicht entgeht. Und diesen Irrtum denket Ihr mit dem Verbrechen