Aber sie steckt das gut weg und holt ihr Handy hervor, um mir eine neue App zu präsentieren, die angibt, wann die beste Zeit fürs Kinderzeugen ist … oder wann man besser vorsichtig sein sollte, wenn man noch nicht bereit für Kinder ist. Sie ist vollauf begeistert, da die Eintragungen in der App genau mit ihren Daten übereinstimmen.
Schon wieder dieses leidige Thema, schießt es mir durch den Kopf. Sie meinte doch, dieses Pferdejahr wäre nach dem Unfall mit dem Hund kein gutes Jahr zum Kinderkriegen! Zudem ist es verwunderlich, dass Hong nun doch über Kinder nachzudenken scheint, weil sie ja in China keine Kinder großziehen will. Ich werde herausfinden, ob meine Schwiegereltern dahinterstecken oder ob es ihr eigener Wunsch ist. Vielleicht fragt ja auch mal jemand mich …
In der Nacht zum fünften Tag nach Neujahr beginnt wieder ein ohrenbetäubendes Pfeifen der noch übrig gebliebenen Feuerwerkskörper zu Ehren des Gottes des Vermögens, um gebührend in dessen Geburtstag reinzufeiern. Als Europäer dürfte man sich jetzt über diese Gottverehrung wundern, da Religionen in China ja eher nicht so gern gesehen sind. Tatsächlich glauben viele Chinesen an Buddha und den Taoismus, in dem es viele verschiedene Götter gibt. Neben dem bereits erwähnten Gott des Vermögens kann man zum Beispiel auch einem Heiratsgott huldigen und der Guanyin-Pusa-Göttin9, die Kinder schenkt, zur Welt bringt und betreut.
In diesem Jahr fällt der Geburtstag meines Schwiegervaters genau auf diesen Tag, so dass wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können, wie man so schön sagt. Welch ein Glück. Von Hong erfahre ich, dass jeder Chinese grundsätzlich entsprechend des Mondkalenders an CNY ein Jahr älter wird. So gesehen hat jeder Chinese zwei Geburtstage, aber bei der älteren Generation werden erst ab einem Alter von vierzig Jahren runde Geburtstage gefeiert. Die Jüngeren richten sich nach dem westlichen Kalender und begehen diesen Tag jedes Jahr am selben Datum.
Irgendwann stehe ich auf und checke meine E-Mails. Tatsächlich wurde mir am Neujahrstag aus Deutschland eine Nachricht mit der Bitte um eine Kalkulation geschickt und gestern kam eine Nachfrage, ob diese Kalkulation gemacht sei. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, denn ich habe den Abwesenheits-Assistenten meines E-Mail-Programms mit der Bemerkung gefüttert, dass ich bis zum siebten Februar abwesend sein werde.
Meine Frau erscheint etwas verschlafen an der Tür und erinnert mich an den Geburtstag ihres Vaters, für den sie noch Blumen kaufen möchte. Natürlich fragt sie, welches Geschenk ich denn für meinen Schwiegerpapa hätte. Ich muss nachdenken, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich das irgendwie verschwitzt. Dann fällt mir die graue Jacke aus Deutschland ein, die ich nicht mag, und will von Hong wissen, ob die es auch tun würde. Eigentlich braucht Li Gengnan eine Eieruhr und Eierbecher für die Küche, auch Flaschenverschlüsse fehlen. Das alles an diesem Feiertag noch zu besorgen, wäre an sich kein Problem, da in China gerade an Feiertagen viele Geschäfte geöffnet haben. Das wird von den Chinesen gern ausgenutzt, jedoch haben wir dafür keine Zeit mehr, denn die Geburtstagsfeier beginnt schon um elf Uhr mit einem gemeinsamen Mittagstisch. Widerwillig werfe ich mich in Schale, die aus meinem Geschäftsanzug mit Krawatte besteht, und fahre mit Hong zum Blumenladen um die Ecke. Nebelschwaden und die Reste der explodierten Knallkörper von der Nacht hängen noch in der Luft.
Als wir wieder bei den Schwiegereltern ankommen, sitzen schon einige Gäste im Wohnzimmer auf der Couch. Hong steckt mir noch schnell die roten Umschläge mit den Geldscheinen zu, die ich an die Kinder übergebe. Alle bedanken sich brav, dann fährt die Autokarawane los. Das Restaurant ist zwar gleich um die Ecke, aber man nimmt ja Rücksicht auf die älteren Leuten. Dass die Bequemlichkeit der restlichen Verwandtschaft auch keine geringe Rolle spielt, wird natürlich dezent verschwiegen. Hong und ich überreichen direkt im Restaurant den Blumenstrauß und die graue Jacke, denn es sollen ja alle mitbekommen, was wir schenken. Wie überall auf der Welt sind die Geschenke auch hier nicht an Regeln gebunden und hängen vom Vermögen ab. So freut sich ein Kind in ärmeren Familien über Stifte oder ein Buch, während die Geschenke in vermögenderen Familien preislich höher ausfallen. Ich setze mich meist über die übliche Vorgehensweise, die Geschenke erst auszupacken, wenn die Gäste gegangen sind, hinweg und frage, ob ich gleich hineinschauen darf. Ich finde es persönlicher, sich per Handschlag und nicht per Telefongespräch zu bedanken.
Es gibt eine weitere Regel, die uns Europäern befremdlich erscheint. In China ist traditionell jeder, der eingeladen wird, dazu verpflichtet ein Geschenk zu überreichen, auch wenn er nicht zu der Feier kommen kann. Vorsorglich wird insbesondere bei Geschenken an Kinder die Quittung mit dem Preis beigelegt, denn so können wir sicher gehen, dass wir, wenn wir später Kinder haben, ein Geschenk im selben Wert erhalten.
Drei Stunden lang spielen und schreien die Kinder, die Erwachsenen tanzen und singen leidenschaftlich Karaoke, was die mitgebrachten Flaschen Reisschnaps, die nun größtenteils geleert sind, sehr erleichtern. Die Reste des Essens werden eingepackt und mit nach Hause genommen.
Am Abend nutzen wir den Besuch von anderen Verwandten und Freunden, um weiter essen zu können. Im Anschluss spielen Hong, ihr Vater und zwei seiner Bekannten Mahjong, auf Chinesisch übrigens májiàng.
»Es ist verwunderlich, dass es ein Spiel für 4 Personen ist. Ist 4 nicht die Todeszahl, die man in China immer versucht zu vermeiden?«, frage ich Hong
»Es geht nur darum, dass nur eine gerade Anzahl von Personen spielen kann.«
Ich bin aus zwei Gründen Zaungast: Ich kenne die Regeln nicht und fünf sind einer zu viel bei diesem Spiel. Wang, einer der Bekannten, ist ein alter Armeefreund Li Gengnans aus der Zeit, als beide noch in Nordchina gedient haben. Er wohnt jetzt im Tempel in Suzhou, also ganz in der Nähe, und arbeitet als Fahrer in einer deutschen Firma, die ich auch kenne. Er ist Buddhist, isst also kein Fleisch, und lebt mit den Mönchen zusammen.
»Der einzige Unterschied zwischen Wang und einem Mönch sind die Haare. Der Mönch hat keine mehr«, bemerkt Hong belustigt.
Als Li Gengnan sich ein neues Bier aufmachen will, entdeckt er, dass es schimmlig ist. Der Grund ist schnell gefunden, denn eine Fliege wurde mit abgefüllt. Mit dem deutschen Reinheitsgebot wäre das nicht passiert!
Da das Zuschauen langsam langweilig wird, gehe ich ins Wohnzimmer und schaue mir die vielen Geburtstagsgeschenke an. Etwas ungewöhnlich für einen Deutschen, denn es gibt Kiwis, Äpfel und andere Obstsorten. Nüsse sind auch dabei, alles sehr hochwertig, teuer und hübsch verpackt. Ein zweiter Blumenstrauß ist auch dabei.
Hong gesellt sich zu mir und macht mich darauf aufmerksam, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, ihr das richtige Rückwärtseinparken am Bordstein beizubringen. Ich habe mir abgewöhnt, mich über Hongs Sprunghaftigkeit zu wundern und so gehen wir zusammen in die kalte Nacht hinaus und setzen uns in den alten VW Jetta von Li Gengnan. Ich erkläre ihr die einzelnen Schritte und es klappt gleich beim ersten Versuch. Hong ist begeistert und meint, ich könne Fahrlehrer werden.
»Ja klar, aber nur um schönen Frauen das Einparken beizubringen. Hey, was denkst du? Ist das eine Marktlücke?«, necke ich sie.
Sie stößt mich verärgert in die Seite, beginnt dann aber auch zu lachen und gibt mir einen Kuss.
Perfekt, denke ich, jetzt muss ich ihr nur noch Billardspielen und Tanzen beibringen!
Die Nacht war wieder sehr kalt. Am Morgen unter der Dusche warte ich vergeblich auf warmes Wasser. Dann dämmert es mir langsam. Wie auch im Westen steht die Farbe »rot« für warm, die Farbe »blau« für kalt. Das habe ich in meiner Schlaftrunkenheit nicht bemerkt, ich bin einfach noch nicht wach genug. Trotz allem gönne ich mir einen gedanklichen Ausflug in die Farbengeschichte Chinas. Bereits vor etwa zweitausend Jahren v. Chr. entstand im Daoismus die Theorie der Fünf Elemente, zu denen Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde zählen, wobei die Bedeutung dieser Elemente einem dynamische Wandlungsprozess unterliegen und so immer wieder anderen Merkmalen oder Eigenschaften zugeordnet werden. Zur Geburt der Theorie wurden die Elemente mit Himmelsrichtungen verknüpft und da es nur vier Himmelsrichtungen gibt, erhielt die Mitte auch einen Platz. Bis heute folgten unendlich viele Zuordnungen wie Formen, Jahreszeiten, der Mittsommer darf hier als Nummer fünf mitmischen, Planeten, Tiere und eben Farben. Sogar Geschmacksrichtungen sowie Lautäußerungen und Körperflüssigkeiten