Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


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einfach die Stoppzeiten an sich um bis zu 30% anwachsen (Bühlmann et al. 2002, S. 368). Als weiteres Beispiel hatte Dr. Max Hahn 1985 die Koeffizienten des ZH-L 16-Systems für den Tauchcomputer „Deco-Brain” bei der Software-Aktualisierung P2-3 als Nachfolge der P2-2 ebenfalls konservativer gestaltet wie die veröffentlichten theoretischen Werte (Quelle: private Kommunikation).

      Optimal Switching Time. Umfangreiche numerische Simulationen haben gezeigt, dass Gaswechsel bereits unterhalb der MOD wesentlich effizienter verlaufen, als wenn erst bei Erreichen der Stopptiefe auf das der MOD angepasste Gas gewechselt wird. Dieses Verfahren wird „optimal switching time“ genannt, da der Zeitpunkt des Gaswechsels beim Aufstieg vorweggenommen wird.

      Hinweis. Für oberflächenversorgte Arbeitstauchgänge oder mittels einer Taucherglocke stellt dieses Verfahren weder technisch noch rechnerisch ein Problem dar, für einen autonomen TEC-Taucher schon eher – viele Desktop-Deco-Programme lassen dies nicht zu; bei einigen Programmen ist z. B. ein pO2, max = 1,5 bar in Stein gemeißelt.

      Tauchcomputer und Tauchcomputerfehler. Tauchcomputer sind elektronische Geräte, die mittels Zeit-, Temperatur- und Druckmessungen Dekompressionsprognosen berechnen, wenn das Atemgas spezifiziert wird. Diese gemessenen Werte unterliegen damit dem üblichen zufälligen statistischen Fehler der Messung. Die Messwerte sind in Form einer Gauß’schen Glockenkurve um den „wahren“, den Mittelwert, zufällig verteilt. Zur Berechnung der Deko-Prognose werden alle Variablen herangezogen; somit unterliegt die Deko-Prognose dem unschönen Phänomen der Fehlerfortpflanzung. Die Fehlerfortpflanzung ist im schlechtesten Fall einfach die Summe aller Einzelfehler. Diese Fehler gilt es, nach Erfahrung mit den unterschiedlichen Produkten, in die Tauchgangsplanung mit einzubeziehen.

      DIY-Software (Do-It-Yourself Deco-Software). Mit der zunehmenden Akzeptanz des Internets gibt es zahlreiche Dekompressionsprogramme, die auf PCs oder auch auf SmartPhones betrieben werden können. Egal, ob als kostenlose „Free-/Shareware“ oder als Kaufsoftware: Bei beiden herrscht i. d. R. eine unsichere Aktenlage. Handbücher oder sonstige Dokumentationen sind oft unvollständig, Rundungsvorschriften werden nicht erläutert, es tauchen schleierhafte Parameter auf und die benutzten Konstanten, z. B. Wasserdichte oder Rq, sind meist unklar. Vor allem bei modernen Implementierungen von Blasenmodellen sind die Algorithmen üblicherweise nicht dokumentiert; zur Berücksichtigung des Sauerstofffensters („oxygen window“) muss man den Werbeaussagen einfach glauben. Dies trifft auch auf die sog. „adaptiven“ Algorithmen bei neueren Tauchcomputern zu. Mit „adaptiv“ ist die Anpassung des Algorithmus an Temperatur, Gasverbrauch und Herzfrequenz gemeint. Diese Adaptionen sind üblicherweise kryptisch, also weder öffentlich dokumentiert noch mit nachvollziehbaren Messergebnissen belegt (s. auch Salm 2011).

      Kompaktinformation

      Das Sauerstofffenster segelt in der angloamerikanischen Fachliteratur auch unter folgenden Flaggen:

      ■ „pressure vacancy“ (C.B. Momsen, 1939),

      ■ „oxygen window“ (A. Behnke, 1967),

      ■ „inherent undersaturation“ (B.A. Hills, 1960–1968).

      Es bedeutet zunächst ganz einfach eine Druckdifferenz zwischen dem (eingeatmeten) Gesamtdruck und dem im Gewebe herrschenden Druck. Diese Druckdifferenz erklärt sich durch den im Gewebe verbrauchten Sauerstoff. Das produzierte Kohlendioxid reicht nicht aus, diese Druckdifferenz wieder aufzufüllen.

      Historische Bemerkung. Im ganzen „Deko-Zirkus“ wurde allerdings schon immer mit Netz und doppeltem Boden, sprich: undokumentierten Prozeduren, gearbeitet. Die alte USN-Lufttabelle wurde kosmetisch hier und da in den Stoppzeiten etwas erweitert, ebenso die OSHA-Tabelle für Caisson-Arbeiter; Bob Workman erhöhte künstlich den alveolaren Inertgaspartialdruck, um bei hohem pO2 die Vasokonstriktion zu berücksichtigen, und Bühlmann erhöhte die Halbwertszeiten ausgewählter Kompartimente, um die nächtliche Verringerung der Perfusion während den Ruhezeiten der Taucher bei der Dekompression nach Sättigungstauchgängen abzubilden.

      5.3 Theoretische Weiterentwicklungen der Deko-Modelle

      Parallel zu den empirischen Weiterentwicklungen wurden, z. B. in den Labors und Forschungszentren der United States Navy, theoretische Ansätze weiterentwickelt und stellenweise auch im menschlichen Experiment (s. nächster Abschnitt) geprüft und verbessert. Grundsätzlich haben sich zwei unterschiedliche Wege durchgesetzt: ein relativ streng mathematischer, sehr eng an den bereits vorhandenen Perfusionsalgorithmen angelehnt, und ein weiterer, nämlich der Weg der hybriden (Misch-)Modelle. Dieses Hybridmodelle sind z. T. Kombinationen aus Perfusions- und Blasenmodellen, z. T. auch Parameteroptimierungen mittels eines gemessenen „deco stress“. Dieser „deco stress“ wird durch Ultraschall-Dopplermessungen erfasst.

      5.3.1 Spezielle (ältere) Ansätze

      ■ 1-Kompartiment-Modell,

      ■ kontinuierliche Halbwertszeiten,

      ■ LEM/VVAL 18 (Linear-Exponential-Multigas).

      Sowohl beim 1-Kompartiment-Modell als auch beim Modell der kontinuierlichen Halbwertszeiten stand zunächst die Verringerung der freien und damit anpassbaren Parameter im Vordergrund, um die Berechnung zu vereinfachen. In einem traditionellen Bühlmann-ZH-L 16-Modell finden wir 16 Kompartimente mit jeweils einer Halbwertszeit und den beiden Parametern a und b. Es gibt somit 16 × 2 = 32 freie Parameter pro Inertgas, wenn die Halbwertszeiten der Kompartimente als naturgemäß gegeben akzeptiert werden. Bei einem 1-Kompartiment-Modell beträgt somit die Zahl der freien Parameter 2. Ziel war es dann, die Asymmetrie bei Gasaufnahme und -abgabe über eine zweite, größere Halbwertszeit an physiologische Gegebenheiten anzupassen. Die Asymmetrie wurde schon von Haldane vermutet; er nahm an, dass ein etwaiges Vorhandensein von Gasblasen die Entsättigung wirksam verzögern würde. Bei dem anderen Ansatz über ein kontinuierliches Spektrum an Kompartimentshalbwertszeiten, sprich eine unendliche Anzahl an Kompartimenten, wurde dem Streit über Anzahl und Halbwertszeiten der zu benutzenden Kompartimente elegant aus dem Wege gegangen. Auch hier wurden die freien Parameter über Anpassungen an existierende Tauchprofile gefunden.

      Der Weg, den Edward Thalmann bei der USN zwischen 1979 und 1985 verfolgte, hatte ebenfalls zum Ziel, die Asymmetrien mathematisch zu formulieren, um dabei die Anzahl der beobachteten DCS-Fälle zu verringern. Das Resultat aus der Analyse von ca. 1300 dokumentierten Tauchprofilen mit Kreislaufgeräten mit EAN, ca. 1600 Tauchgängen mit Heliox, jeweils mit pO2, max = 0,7 bar, sowie ca. 2300 Lufttauchgängen aus den 1990er Jahren, war das „LEM-Model“ (LEM: Linear-Exponential-Multigas). Exponentiell wird die Aufsättigung, die Entsättigung aber als linear beschrieben. Mit Multigas sind zusätzlich zu den üblichen Inertgasen auch die metabolischen Gase berücksichtigt. Die Steigung der linearen Entsättigungsgleichung wurde so gewählt, dass beim Aufstieg und während der Oberflächenpause die Entsättigung langsamer erfolgt als die exponentielle Aufsättigung während den Kompressions- und Isopressionsphasen.

      Historische Bemerkung. Dieses Modell wurde nach einer der vielen Variablen im FORTRAN-Quellcode des Algorithmus benannt. Das erfolgreichste Variablenfeld der erlaubten/tolerierten Übersättigungen für die Kompartimente hieß „VVAL18“. Dieser LEM-Algorithmus ist im einzigen Tauchcomputer, der bei der USN eingesetzt werden darf, ein Gerät von Cochran Undersea Technologies Inc. Texas (www.divecochran.com), einprogrammiert.

      Die USN-Tabelle für oberflächenversorgte Lufttauchgänge, die seit 1957 mehr oder weniger unverändert eingesetzt wurde und auch die Ausbildungssysteme der meisten Sporttauchorganisationen der Welt dominierte, wurde mit diesem LEM/ VVAL18-Modell erst im Jahre 2008 mit der Revision 6 des Diving Manuals grundlegend modifiziert. Es wurden nicht nur die meisten Dekompressionsstopps verlängert, sondern insbesondere alle 10 Fuß (3 m) Stopps auf den 20-Fuß-Stopp (6 m) verlegt.

      5.3.2 Hybridmodelle (aktuelle Entwicklungen seit der Jahrtausendwende)

      ■ CMD (Complex Mathematical Model)

      ■ GFM (Gas Formation Method)

      ■ 3CG (3 Compartment General Model)

      ■ Copernicus-Modell

      Die hybriden Modelle versuchen