dass sie sich daran gewöhnt hatten.
Maisblüte überdachte ihre Situation. Noch war an Flucht nicht zu denken, selbst wenn sie es schaffte, diesem Mann zu entwischen. Die Ebene war überflutet mit diesen fremden Menschen, die sie sofort wieder einfangen würden. Aber in der Nacht konnte sie vielleicht davonschleichen? Sie spülte die Seife aus der Kleidung und wunderte sich im Stillen über das seltsame Tuch, das die Fremden verwendeten. Ein kurzer Blick auf ihr eigenes Gewand ließ sie seufzen. Ihr Gewand stand vor Dreck und Blut und sie hatte es notdürftig zusammengeknotet, wo grobe Hände es zerrissen hatten. Sie konnte es nicht waschen, denn dann würde sie nackt vor diesem Mann sitzen. Zum Glück trug sie noch ihre Reisemokassins. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, als sie an ihre Mutter dachte, die diese Dinge in liebevoller Hingabe hergestellt hatte. Ihr schmaler Körper bebte, als sie das Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte. Mit einer Hand benetzte sie das Gesicht, um die Tränen abzuwaschen.
* * *
Der Capitán saß unbeeindruckt am Ufer und mahnte mit einer ungeduldigen Handbewegung, dass sie sich beeilen sollte. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem Rascheln im Gebüsch abgelenkt. Er zog seinen Degen und ging misstrauisch darauf zu. Auch Maisblüte hielt in ihrer Arbeit inne und beobachtete das Geschehen.
Ein kleiner Junge durchbrach das Gestrüpp und versuchte, dem Mann mit dem Degen zu entkommen. Der Mann lachte und hielt das strampelnde Kind einfach am Arm hoch. Es war ein entsetzlicher Anblick, wie der hünenhafte Soldat mit erhobenem Degen kurz davor stand, den kleinen Jungen in Stücke zu hacken. Der Junge strampelte verzweifelt und sein hohes Schreien schallte über den Fluss.
Maisblüte blieb das Herz stehen, als sie Nanih Waiya erkannte, der schmutzig und mit verweintem Gesicht verzweifelt gegen den Soldaten kämpfte. Ihr Bruder! Ihr Bruder war irgendwie dieser Feuersbrunst entkommen! Doch jetzt schien sein Leben von diesem Soldaten ausgelöscht zu werden. „Keyu!“, schrie sie mit gellender Stimme. „Keyu! Nein! Bitte tue ihm nichts! Er ist mein Bruder!” Sie war hysterisch vor Angst und griff dem Mann einfach in den Degen, um ihren Bruder zu schützen. Blut lief über ihre Hand, als der scharfe Stahl ihre Handfläche aufschnitt. Verzweifelt klammerte sie sich an dem Mann fest und versuchte, das Kind aus dem harten Griff zu befreien. Der Soldat war völlig verwirrt und ließ das Kind einfach los. Vielleicht hatte er ihm auch gar nichts tun wollen.
Maisblüte legte schützend ihre Arme um den Bruder und weinte ihre Verzweiflung heraus. „Bitte, er ist mein Bruder! Er ist doch nur ein Knabe!“ Sie hob bittend die Hand, von der das dunkle Blut tropfte.
Der Capitán steckte das Rapier weg und hob ebenfalls die Hände in einer begütigenden Geste. „Ich tue ihm doch nichts!“, versicherte er. Seine dunklen Augen waren vor Ärger zusammengekniffen, als er ihre Verzweiflung sah. „Ich tue ihm nichts!“, wiederholte er und trat dabei einen Schritt zurück. Der Kampf war vorbei und sah er keinen Sinn darin, einen kleinen Jungen zu töten.
Maisblüte verstand kein Wort, aber sie erkannte das Zeichen des Friedens und beruhigte sich ein wenig. Sie nahm ihren Bruder an die Hand und legte den Kopf an seine Wange. „Darf er bei mir bleiben?“, fragte sie den Soldaten. Sie hielt den Bruder fest und zeigte dem Mann so, was sie wollte. Ihr ganzer Körper zitterte vor Verzweiflung. Der Bruder war das Letzte, was ihr geblieben war. Es war ein Zeichen, dass er überlebt hatte! Ein Zeichen von Hashtali!
Der Mann runzelte nachdenklich die Stirn und musterte das verschreckte Kind. Es musste in irgendeiner Verbindung zu dem Mädchen stehen, obwohl es offensichtlich nicht der Sohn sein konnte. Er war ziemlich klein und vermutlich eher ein unnützer Esser, aber wahrscheinlich wäre das Mädchen dankbar und ihm mehr zugetan, wenn er erlaubte, dass das Kind bei ihr blieb. „Bueno“, murmelte er. Er machte eine leichte Handbewegung und verzog sein behaartes Gesicht zu einem leichten Lächeln. „Bringe ihn ins Zelt mit!“
„Yokoke!“, hauchte Maisblüte. Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht, aber dieses Mal vor Dankbarkeit. Es war bestimmt ein Zeichen der Großen Sonne, dass ihr Bruder überlebt hatte! Bestimmt! Wenigstens der Bruder war ihr geblieben. Sie war jetzt verantwortlich für ihn. Ihre Augen hefteten sich auf den fremden Mann, immer noch voller Angst, was er tun würde. Durfte der Bruder wirklich bleiben? Immer noch drückte sie das Kind an sich, fühlte das Zittern und Weinen des kleinen Jungen. Auch ihr liefen die Tränen über das Gesicht und sie schluchzte unkontrolliert. Der Soldat trat tatsächlich näher und wischte ihre Tränen beiseite.
„Wie heißt denn der kleine Kerl?“, fragte der Capitán. Maisblüte verstand die Frage nicht und der Mann seufzte ungeduldig.
„Juan, Maria … und der da?“, wiederholte er.
„Nanih Waiya!“, antwortete Maisblüte. Würde es helfen, wenn der Soldat den Namen des Bruders kannte?
Der Mann lachte laut und schüttelte sichtlich erheitert den Kopf.
„Das kommt ja gar nicht in Frage! Das kann sich kein christlicher Mensch merken! Er heißt jetzt Nana, verstehst du? Nana!“
Maisblüte nickte und drückte ihren Bruder an sich. „Nana!“, wiederholte sie gehorsam. Der Mann nahm seufzend ihre Handverletzung wahr und deutete auf das Kind. „Sag ihm, dass er die Wäsche tragen soll. Du versaust sonst alles mit deinem Blut.“ Er zeigte auf das Wäschebündel und dann auf das Kind, damit sie verstand, was er wollte.
Maisblüte beugte sich zu ihrem Bruder hinunter, der immer noch vor Angst schlotternd neben ihr stand. „Wir gehören diesem Mann und müssen ihm gehorchen. Du trägst die Kleidung zu dem Zelt, in dem wir nun leben.“
Nanih Waiya verzog schmollend den Mund, gehorchte aber ohne zu widersprechen. Sein verweintes Gesicht drückte das Entsetzen aus, das er empfunden hatte. In nur einem Tag war seine ganze Welt zerstört worden. Er verstand nicht, warum. Er ahnte, dass er die Mutter und den Vater nie wiedersehen würde, ebenso wenig wie den großen Bruder, aber er verstand noch nicht, wie lange das „nie“ war. Er vermisste seine Eltern und hätte ihres Trostes bedurft. Er trottete neben Maisblüte her und trug die nasse Wäsche des Mannes, der geholfen hatte, sein Dorf auszulöschen. Sein Gesicht drückte Hass, aber auch Unverständnis aus.
Am Zelt angekommen gab der Soldat Maisblüte ein Stück Tuch, damit sie ihre Hand verbinden konnte. Dann zeigte er ihr, wie sie die Wäsche über einer Leine aufhängen konnte. Nanih Waiya hatte sich an ihren Schurz geklammert und wich nicht von ihrer Seite. Mit sicherem Instinkt wusste er, dass er besser still war, bis der Mann gegangen war. Kurze Zeit später saßen die beiden auf der Decke des Zeltes und warteten weitere Anweisungen ab. Maisblüte hatte keine Vorstellung davon, was jetzt geschehen oder wie ihr Leben verlaufen würde. Sie hoffte nur, von einem Tag zum nächsten zu überleben und die schrecklichen Demütigungen zu vergessen, die ihr angetan worden waren. Gleichzeitig wusste sie, dass dies erst der Anfang war. Wie sollte sie ihren Bruder in dieser grausamen Welt schützen? Und wie sollte sie verbergen, was der Mann ihrem Körper wieder antun würde?
Der Mann warf seine Ausrüstung vor ihre Füße und zeigte ihnen, wie man sie reinigte. Zum ersten Mal fasste Maisblüte den seltsamen Hut aus dem Käferpanzer an. Er war hart wie Stein, fühlte sich aber glatt an. Auch die anderen Teile waren aus diesem Material. Der Soldat wollte, dass sie geputzt und eingeölt wurden. Auch der Junge sollte dabei helfen. Mit einer herrischen Geste drückte er ihm die hohen Schuhe in die Hand, damit er sie putzte. Dann verließ er das kleine Zelt.
Zum ersten Mal konnte Maisblüte mit ihrem Bruder reden. Sie ließ den Lappen sinken und betastete den Körper des Jungen. Er hatte Brandblasen, schien aber sonst unverletzt zu sein. „Chim achukma?“, fragte sie besorgt. Wie geht es dir?
Der Junge wischte mit der Hand über sein Gesicht. „Es ist nichts!“, wehrte er ihre Sorge ab. „Ich bin nur hungrig.“
„Was ist geschehen?“, flüsterte Maisblüte. „Wie konntest du dem Feuer entkommen?“
„Mutter hat mich nach oben gehoben, damit ich auf das Dach klettere. Aber dann wurde es so heiß und stickig, dass ich weg musste. Mutter hat geschrien und die anderen auch! Aber ich konnte doch nicht helfen, nicht wahr?“ Er blickte trostsuchend zu seiner Schwester.
Maisblüte schüttelte nur den Kopf. Sie