Kerstin Groeper

Donnergrollen im Land der grünen Wasser


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erst raus, als ich dich sah!“

      „Das war sehr gefährlich, denn der Fremde hätte dich töten können.“

      „Aber was soll ich denn tun?“ Das Kind schluchzte unterdrückt. Maisblüte senkte den Kopf. „Wir gehören jetzt diesem Mann und müssen tun, was er sagt. Manchmal wird er mir wehtun, dann wartest du draußen, bis ich dich rufe. Hörst du?“

      „Aber warum tut er dir weh?” Die Augen des Knaben waren groß vor Unverständnis.

      „Er tut das, was Männer eben tun. Du bist noch zu klein, um das zu verstehen. Aber ich möchte, dass du bei mir bleibst. Vielleicht gelingt uns bald die Flucht. Dann sind wir wenigstens zusammen.“

      „Und Mutter und Vater?”

      Maisblüte schüttelte den Kopf. „Trage die Erinnerung an sie in deinem Herzen. Alles ist nun anders. Wir müssen einen Weg finden, um zu überleben. Ich weiß auch nicht, was wir tun können. Wir warten ab und lernen mehr über diese Fremden. Jetzt mach, was er dir gesagt hat.“

      Trotzig warf Nanih Waiya die Bürste zu Boden. „Ich bin kein Sklave!“

      Maisblüte fasste ihn eindringlich an der Schulter. „Doch, wir sind nur Sklaven. Diese Menschen können mit uns tun, was immer ihnen beliebt. Sie haben in ihren Donnerstöcken den Blitz gezähmt und haben Waffen, die uns alle vernichten. Du bist nur ein kleines Kind und hast keinen Wert. Wenn du dich widersetzt, dann wird er dich töten oder mich bestrafen. Bitte! Sei still und tue, was von dir verlangt wird. Das ist unser einziger Schutz. Verstehst du?” Der Junge nickte unglücklich. „Auch wenn er dir wehtut?”

      „Auch, wenn er mir wehtut!“, wiederholte Maisblüte mit Nachdruck. „Du musst leben! Versprich mir das!“

      „Ich werde dir gehorchen!”, antwortete das Kind. Er war so unglücklich, dass Maisblüte ihn kurz in die Arme nahm. „Du bist doch mein kleiner Bruder!“, meinte sie tröstend. Nur wegen ihres Bruders würde sie ihr Schicksal ertragen, denn sie war für das Kind verantwortlich. Nur das würde ihr die Kraft geben, zu überleben. Allein das gab ihr einen Sinn. Sie putzte weiter an der Käferkleidung und nickte Nanih Waiya zu, seine Arbeit zu machen.

      Juan kehrte in Begleitung eines anderen Mannes wieder, der ein rasselndes Teil mit sich trug. Er setzte sich zu ihren Füßen und schnappte sich einen ihrer Knöchel. Maisblüte wollte ihn zurückziehen, doch ein scharfer Befehl von Capitán Juan ließ sie innehalten. Mit großen Augen starrte Maisblüte auf die Fesseln, die der Soldat ihr anlegen ließ. Sie waren aus dem gleichen Material wie der Helm. Mit einem Hammer legte der fremde Mann die Fesseln an, die mit einer Kette verbunden waren. Sie war schwer und rasselte, als sie die Beine zurückzog. Maisblüte überkam das heulende Elend, als sie die Fesseln betrachtete. Sie war eine Gefangene! Mit diesen Fesseln konnte sie unmöglich fliehen! Nanih Waiya saß still daneben und starrte den Soldaten mit großen Augen an. Dann rannte er in plötzlicher Panik einfach davon.

      „Bleib hier!“, schrie Maisblüte voller Verzweiflung. „Bleib doch hier!“

      Der Capitán lachte dunkel und machte eine lässige Handbewegung. „Der kommt schon wieder, wenn er Hunger hat!“ Er zeigte mit der Hand auf seinen Mund und rieb sich den Bauch. Er machte sich nicht die Mühe, dem Kind zu folgen, weil es keinerlei Wert für ihn hatte. Er verabschiedete sich von dem Fremden und kniete sich dann sichtlich zufrieden vor sein Opfer. Besitzergreifend tätschelte er ihre Wange und lächelte. „Maria!“, säuselte er. Die scharfe Hakennase und die dunklen Augen wirkten bedrohlich, sodass sie angeekelt zurückzuckte.

      Eine Bewegung am Eingang des Zeltes lenkte den Mann ab und so erhob er sich in gebückte Haltung. Ein Soldat hatte Nanih Waiya eingefangen und führte ihn am Nacken gepackt wieder zu seinem Herrn zurück. Das Kind wehrte sich dagegen und beide Männer lachten über seine vergeblichen Versuche, sich zu befreien. Der Capitán packte das Kind am Handgelenk und zerrte es auf die Decke neben Maisblüte. „Schluss jetzt!“, rief er ungeduldig.

      Nanih Waiya klammerte sich an die Schwester und starrte den Mann hasserfüllt an. Der hob drohend seinen Finger. „Du kleine Bestie! Wenn du dich nicht benimmst, verkaufe ich dich! Ist das klar?”

      Maisblüte erkannte am Tonfall, dass der Capitán keine Geduld mehr haben würde. „Hör auf!“, zischte sie warnend. „Bitte, hör auf!“

      „Aber deine Fesseln!“, klagte der Junge. Sein kleiner Körper schlotterte vor Angst und Entsetzen.

      „Es ist doch sein Recht! Sitze endlich ruhig, ehe er dir auch noch Fesseln anlegt.“

      Nanih Waiya erstarrte und schaute hilflos von einem zum anderen. Der Soldat hob mahnend die Augenbrauen und beließ es dabei. Mit einer befehlenden Handbewegung forderte er Maisblüte auf, ihm beim Wechseln des Verbandes zu helfen. Maisblüte erhob sich und bewegte sich vorsichtig. Die Fesseln waren schwer und behinderten sie, aber sie konnte kleine Schritte machen. Sie versorgte die Verletzung des Mannes und erkannte nicht ohne Schadenfreude, dass es sich um einen Pfeilschuss handelte. Aber es verheilte bereits und so würde der Mann nicht lange eingeschränkt in seinen Bewegungen bleiben.

      Anschließend führte Capitán Juan die beiden in die Mitte des großen Lagers. Maisblüte sah sich aufmerksam um, als sie neben dem Mann her schlurfte. Sie hatte Nanih Waiya an sich gepresst, der von all den fremden Eindrücken völlig überwältigt war. An mehreren Feuern hingen große Töpfe, in denen Suppe köchelte. Die Infanterie mit ihren Hellebardenträgern, Arkebusieren und Armbrustschützen machte einen Großteil der Expedition aus. Sie saßen um die Feuer und versuchten, ihre Waffen wieder in Ordnung zu bringen, oder kümmerten sich um ihre Verletzungen. Dazwischen hockten Sklaven, Köche, Mägde, christliche Frauen, Hundeführer, Trommler, Priester, Pferdepfleger, Schweinehirten und Handwerker. Es war ein unübersichtlicher Haufen, der ausgezogen war, um in Amerika sein Glück zu finden.

      Juan schickte Maisblüte los, um Essen zu holen. Auf einen Teller wurde die Suppe eingeschenkt und ehrerbietig brachte Maisblüte das Essen ihrem neuen Herrn. Anschließend durfte auch sie sich einen Teller holen, den sie sich mit dem Bruder teilte. Maisblüte hatte Angst vor den riesigen Hunden, die an ebensolchen Ketten hingen wie sie und jeden anknurrten, der ihnen zu nahe kam. Sie waren genauso furchteinflößend wie die Pferde, nur mit dem Unterschied, dass sie vermutlich einen Menschen in Stücke reißen konnten. Sie vermied es, ihnen zu nahe zu kommen, und schöpfte die Suppe in eine Schale. Die fremden Laute verwirrten sie und die gierigen Blicke auf ihren Körper ließen sie erschauern. Die Ketten behinderten sie stark und Maisblüte unterdrückte die Tränen. Sie war der Besitz dieses Mannes. Es war klar, dass er verhindern wollte, dass sie eines Tages die Flucht wagte. Aber wohin denn?

      Maisblüte kostete die Suppe, die aus Mais und Schweinefleisch bestand. Das Fleisch war fetter als das Fleisch der Stachelschweine, das ihre Männer manchmal aus den Wäldern holten, aber es schmeckte gut. Mit vollem Magen ließ es sich auch besser denken. Nanih Waiya schlürfte gierig die Suppe in sich hinein und schien halbwegs versöhnt zu sein. Er schielte nach dem großen Topf und hoffte wohl auf mehr. Juan lachte dröhnend und gab mit einem Zeichen zu verstehen, dass Maisblüte dem Kind noch mehr geben durfte. Er erntete daraufhin ein scheues Lächeln, was ihn sehr zu erheitern schien. Maisblüte seufzte erleichtert. Anscheinend fand der Soldat Gefallen an dem Kind. Vielleicht gelang es auch ihr, das Herz dieses Mannes zu berühren, damit er eines Tages diese Fesseln wieder entfernte. Nur dann konnte sie die Flucht wagen.

      * * *

      Dann wurde sie von einem anderen Spektakel abgelenkt, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Einige Wachen brachten einen Gefangenen, der mit gefesselten Händen und einem Seil um den Hals durch die Mitte des Lagers gezerrt wurde. Es war ein junger Krieger, der an vielen Stellen blutete. Er wehrte sich nach Kräften, aber es gelang ihm nicht, sich loszureißen. Er trug nur einen Schurz um seine Lenden und war ansonsten nackt. Er spuckte und schrie seine Verachtung heraus. Die Menschen bildeten einen Kreis und drohten wutentbrannt mit ihren Fäusten. Dann schichteten sie auf einen Befehl hin einen großen Haufen Holz auf. In der Mitte wurde ein Pfahl angebracht und der junge Mann daran festgebunden. Maisblüte stockte der Atem, als ihr klar wurde, was dort geschah. Dann wurden zwei weitere Gefangene herbeigezerrt und ebenfalls dort festgebunden. Man machte sich gar nicht die Mühe,