André Schaberick

Der Tod ist mein Freund


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die Luft und hielten zielstrebig auf ihn zu. Eine Wolke der großen Insekten schwirrte über, neben, unter, vor und hinter ihm vorbei. Es war ein bezaubernder Anblick. Samuel konnte sich nicht daran erinnern, jemals so große und herrlich schillernde Schmetterlinge gesehen zu haben. Einer landete direkt auf seiner Nase und schaute ihm in die Augen. Mit seinen Fühlern dirigierte er in der Luft, wie ein Dirigent sein Orchester leitet, als wolle er ihm etwas mitteilen. Vielleicht war er in der Lage zu sprechen.

      Samuel begrüßte ihn, aber der Schmetterling sagte nichts. Er gab auch keine Geräusche von sich. Nach einer Weile flog er wieder von seiner Nase herunter und mischte sich unter Seinesgleichen. Sicher waren es an die hundert Insekten. Sie waren mit zusammengefalteten Flügeln alle so groß wie Handteller eines erwachsenen Mannes. Erneut sprach Samuel sie an.

      „Könnt ihr mich verstehen?“

      Er streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben in ihre Richtung aus, und sofort landeten ein paar darauf. Sie fuhren ihren aufgerollten Rüssel aus und tupften auf seiner Hand nach Salz. Es kitzelte, und er musste lachen. Dann flogen sie alle wieder auf und mischten sich mit der Wolke, die Samuel einhüllte. Ein wunderbares Erlebnis war das.

      Erst jetzt nahm er die Natur ringsum wahr. Es war dieselbe, die er in seinem letzten Traum gesehen hatte.

      „Träume ich, oder ist das, was ich gerade erlebe, Realität?“

      Sich in einem Traum darüber bewusst zu werden, dass man träumt, ist traumhaft, aber unrealistisch, stellte er fest, also musste das, was er gerade sah, die Realität sein.

      Plötzlich raschelte es in den Pflanzen vor ihm. Er bekam einen kleinen Schreck und ging einen Schritt zurück, aber da die Pflanzen relativ klein waren – sie gingen ihm gerade mal bis zum Knie – konnte keine Gefahr von den Geräuschen ausgehen. Vermutlich war es nur eine Maus oder ein Kaninchen, das dort herumwuselte.

      Ein männliches Gesicht schaute ihn an und lächelte. Es sagte etwas, das klang wie „Kro mi no vana. Ga tu?“

      Samuel verstand nicht ein einziges Wort, und deshalb versuchte er es in seiner Sprache, in der Hoffnung, der kleine Mann würde ihn verstehen.

      „Ich verstehe dich nicht, kleiner Kerl. Was hast du gesagt?“

      Das Männlein, das so groß war wie eine Katze, schaute ihn mit schräg gelegtem Kopf an.

      „Ola ru gugi!“

      Er rief es nach hinten ins Gebüsch. Plötzlich bewegte es sich an mehreren Stellen gleichzeitig zwischen den Pflanzen. Von überall erschienen kleine Gestalten und schauten ihn misstrauisch an.

      „Wer seid ihr?“

      Samuel bekam jedoch keine Antwort. Oder zumindest bekam er keine Antwort, die er auch verstand.

      „Dalli munatta, ko re kulanda.“

      Aus dem Gebüsch erschallten diese Worte, aber das half Samuel auch nicht weiter.

      Er wollte sie nicht verärgern, also schaute er sie freundlich an und setzte sich langsam und vorsichtig auf den Fußboden. Er hatte ein paar Süßigkeiten in der Tasche, stellte er erleichtert fest.

      „Vielleicht mögt ihr etwas Süßes.“

      Er holte die Süßigkeiten hervor, öffnete die Tüte und legte sie vor ihnen auf den Fußboden. Dann deutete er mit der Hand darauf und bot es ihnen an.

      „Nehmt! Probiert, es ist lecker!“

      Er schmatzte, zeigte mit der Hand darauf, dann auf seinen Mund. Auf diese Weise deutete er ihnen an, dass sie die Süßigkeiten probieren sollten. Da es Schokolade war, duftete es herrlich. Nun brach er einen der Schokoriegel durch und legte ihn wieder auf den Boden. Das Karamell, das sich in der Mitte des Riegels befand, leistete ganze Arbeit. Der Duft zog den kleinen Männchen in die Nasen und wurde als sehr angenehm empfunden.

      „O guge gala guui!“, rief der, der dem Riegel am nächsten stand. Samuel vermutete, dass dies bestimmt Oh, das duftet aber lecker! hieß. Direkt stürzte sich der kleine Kerl auf den Schokoriegel, steckte den Finger ins Karamell, pflückte etwas davon ab, streckte die Zunge heraus und probierte.

      „Ruuuh, matangaaa!“, rief er, drehte sich dreimal im Kreis und fiel schauspielerisch auf den Fußboden. Ein Grinsen in seinem Gesicht verriet, dass es ihm gut geschmeckt hatte. Samuel glaubte, dass er genau seinen Geschmack getroffen hatte und steckte ebenfalls seinen Finger ins Karamell.

      „Ru matanger!“, versuchte er sich in der unbekannten Sprache.

      Mit dieser Reaktion der kleinen Männlein hätte er nie gerechnet: Sie begannen zu lachen, klopften sich auf die Bäuche, fielen reihenweise um, purzelten umher und standen wieder auf. Sie hatten tatsächlich Tränen in den Augen und lachten. Warum nur? Hatte er etwas Falsches gesagt? Noch einmal wiederholte er seine Worte.

      „Ru matanger!“, und sie lachten noch lauter. Er merkte, dass sie Gefallen an ihm gefunden hatten, denn der erste saß bereits auf Samuels Bein und untersuchte erst seine Hose, dann seine Schuhe. Als er jedoch Samuels Sportschuhen zu nahe kam, rümpfte er die Nase und brüllte „grääääh“. Das Männlein ließ sich theatralisch auf den Boden fallen, hielt sich die Nase zu und wartete, dass die anderen lachten.

      „Gora dinga dinana!“, rief er, zeigte auf Samuels Fuß und lachte. Sicher hieß dies: „Er hat Schweißfüße!“ oder „Herrgott, stinken die Dinger!“

      „Puta lolla katun“, rief ein Männlein, das aussah, als sei es der Häuptling. Samuel hatte ihn zwischen Seinesgleichen noch gar nicht entdeckt gehabt. Er war bunter gekleidet und sah aus, als würde man ihn verehren. Federschmuck, Perlen, Lederschuhe und ein Gürtel kleideten ihn und hoben ihn von den anderen ab. Die anderen trugen eher schlichte Kleidung ohne Schmuck. Er winkte Samuel zu und deutete ihm, aufzustehen und ihm zu folgen.

      „Talla, goh talla! Talla! Goh!“

      Mit dem Armen in der Luft rudernd gab er Samuel Zeichen, sich zu erheben.

      Samuel folgte seinen Anweisungen. Beim Aufstehen musste er ziemlich aufpassen, dass er niemanden verletzte.

      Aus dem Augenwinkel sah Samuel, dass sich ein großes Tier näherte. Es sah aus, wie ein Hund oder eine Katze, gemischt mit einem Schwein. Es hatte böse, lange Eckzähne und zog bedrohlich die Lefzen hoch. Dabei gab es gurgelnde Laute von sich und sabberte. Speichelfäden tropften aus seinem Maul, und schaumiger Sabber flog durch die Luft. Ein widerlicher Anblick war diese Kreatur. Wo kam es so plötzlich her? Was wollte es? Samuel beobachtete es sehr genau, und anhand seiner Bewegungen konnte er erkennen, was es vorhatte. Es ging in eine geduckte Haltung über und sah aus, wie eine Katze, die sich an einen Vogel anschleichen wollte.

      „Verflucht, es will euch angreifen!“, rief Samuel, aber die Männlein verstanden ihn nicht. Sie hatten das Tier vermutlich noch gar nicht entdeckt. Wahrscheinlich verdeckten die Blätter der Pflanzen die Sicht auf das Tier. Samuel fragte sich, welches seltsame Geschöpf hier sein Unwesen trieb. Es schien tatsächlich eine Mischung aus verschiedenen Tierarten zu sein. Schnell suchte er sich einen langen, dicken Stock. Er hatte Glück, dass die perfekte Waffe nur ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Boden lag.

      Die Männlein sahen gerade gar nicht glücklich aus. Mittlerweile hatten sie entdeckt, was Samuel ein paar Atemzüge zuvor gesichtet hatte. Also sprang er zu dem Stock, riss ihn vom Boden hoch, stellte sich als schützendes Hindernis vor das böse Tier, brüllte es an und bedrohte es mit dem Stock. Mit der Spitze des Stockes tat er so, als wollte er das Tier damit stechen wollen.

      Samuel traute seinen Augen nicht, als er sah, wie das Tier sofort seine beiden Schwänze einkniff. Es sah wirklich ulkig aus. Ein Lebewesen mit zwei Schwänzen kannte er noch nicht. Es quiekte wie ein kleines Ferkel, das gerade eingefangen wurde. Plötzlich sah es gar nicht mehr bedrohlich aus, sondern eher ängstlich. Schnell drehte es auf den Hufen um und raste wie von einer Tarantel gestochen davon.

       Ein Raubtier mit Hufen? Seltsam.

      Samuel sprang dem Tier noch hinterher, um es noch mehr zu verängstigen, doch dies war gar nicht mehr nötig.