Ralph Kloos

KOLONIE 7


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sich kurz nach der Veröffentlichung der Fotos auch die weltweit führenden Spezialisten für frühe Maya-Geschichte aus Südamerika angekündigt, denn offensichtlich war der Würfel ja auch von dort aus auf die Reise mit der später gesunkenen Galeone gegangen.

      Doch es sollte knappe zwei Jahre dauern, bis durch die kommenden Ereignisse erkannt wurde, dass bei der ersten Präsentation des Würfels eine Art unsichtbares Signal aus-gesendet worden sein musste ...

      Doch das konnte zu diesem Zeitpunkt niemand erahnen.

       Die vatikanischen Archive

      Auch im mächtigen Kirchenstaat in Rom hatte man die weltweiten Berichte über die archäologische Sensations-entdeckung in der Karibik gelesen. Nur etwa 900 Menschen lebten im kleinsten Staat der Welt, die ausnahmslos in irgendeiner Funktion für den heiligen Stuhl arbeiteten. Als Priester, Angestellte, Sekretäre, Putzfrauen, Fahrer, Koch, Leibwächter und so weiter.

      Eine der wichtigsten und größten Abteilungen innerhalb des winzigen Vatikanstaates ist das „Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum“ - das Geheimarchiv des Vatikans, das unterirdisch knappe 85 Regalkilometer an Akten verwaltete. Im Jahr 1998, war das Archiv dem journalistischen und historischem Fachpublikum erstmals zugänglich gemacht worden und seit dem immer wieder von vielen internationalen Wissenschaftlern untersucht worden.

      Bereits im 15ten Jahrhundert war das Archiv von Papst Sixtus gegründet worden, aber erst Kardinal Scipione Caffarelli-Borghese war in seiner Funktion als Kardinalsstaatssekretär der erste wahre Bibliothekar des Vatikans und wirkte von 1609 bis ins Jahr 1618.

      Als Mäzen hatte dieser auch die Villa Borghese und die Gemäldesammlung Galeria Borghese in Rom gegründet, die heute als eine der wertvollsten und bedeutendsten Sammlungen der Welt gilt und als öffentliches Kunstmuseum seit seiner Eröffnung Millionen von Touristen begeistert.

      Auch an diesem sonnigen Oktobermorgen ließ sich der zweite Mann im Geheimarchiv seinen Cappuccino zum Frühstück bringen und las die elektronischen Nachrichten. Es war kein großes Geheimnis, dass man im Vatikan direkt nach der Vorstellung des ersten iPads durch Steve Jobs, eine größere Anzahl dieser nagelneuen Tablett-Computer zum Testen bestellt hatte.

      Schon vier Wochen nach der ersten Lieferung hatte man im Vatikan beschlossen, alle katholischen Pfarreien in ganz Italien mit diesen neuen Kommunikationsgeräten aus-zustatten. Geld hatte beim heiligen Stuhl noch nie ein größere Rolle gespielt und so wurden Tausende der teuersten W-LAN-Modelle mit dem größten Speicher gekauft und an alle katholischen Seelsorger im ganzen Land verteilt. Die Kirche war schon von alters her immer höchst interessiert an der neuesten Kommunikationstechnik, um ihre Nachrichten und Dogmen so schnell wie möglich zu allen Filialen zu transportieren, obwohl sie auf anderen Gebieten immer noch wie im Mittelalter agierte.

      Paolo Casanate war zwar schon 78 Jahre alt, aber auch er benutzte sein erstes Ipad bereits seit Jahren, genau wie der Rest der apostolischen Glaubensbrüder im Vatikan, ohne jegliche Berührungsängste vor der Technik. Papst Franziskus machte es ja vor und twitterte jeden Tag eine Botschaft an seine Gläubigen, da konnte man als Hüter der geheimen Archive unmöglich an den neuen Technologien vorbei denken und außerdem hatte der rüstige Archivar schnell gelernt, die Vorzüge digitaler Erreichbarkeit auch für seine tägliche persönliche Kommunikation zu nutzen.

      Was er jetzt über die sensationelle Entdeckung eines kostbaren goldenen Relikts las, das man in der karibischen See heraus getaucht hatte, ließ ihn merklich zusammenzucken.

      Paolo Casanate liess seinen halben Cappuccino auf dem Tisch stehen und machte sich eilig auf den Weg ins Archiv. Auch wenn man generell die Botschaft vermittelte, dass alle Archivarien für jeden Wissenschaftler öffentlich einsehbar waren, wusste es Paolo besser, denn er hatte als Einziger seit über 33 Jahren den Zugang zum geheimen Giftschrank der Inquisition und genau den musste er sofort aufsuchen. Es handelte sich dabei nicht um eine geheimgehaltene Kammer mit unsichtbarem Zugang, sondern ganz banal um einige der abertausend Kisten, die im Archiv zwar anscheinend auch alle aufgelistet und auffindbar waren, aber es kam eben darauf an, dass man wusste, WO die kritischen Bände in welchem Karton versteckt waren.

      Dieses einfache aber wirksame System hatten sich wohl schon die Bibliothekare im 16ten Jahrhundert ausgedacht - und das Wissen, wo man die geheimsten aller Bücher im gesamten Archiv finden konnte, war innerhalb des Kirchenstaates immer nur an einen verantwortlichen Archivar weiter vererbt worden, welcher auch immer nur in der „zweiten Reihe“ wirkte. Offizieller Kustos - also Wächter der Archive - war seit 1995 der Titular-Erzbischof Sergio Padano, doch wo die letzten Geheimnisse der Inquisition zu finden waren, wusste nur die „Numero Due“ und Paolo Casanate war genau dieser Mann. Es gab nur zwei Bücher, die für seine Recherche in Frage kamen und in denen er die gesuchten Informationen finden konnte, die seit Jahrhunderten aus-schließlich hier verwahrt wurden.

      Das erste gesuchte Werk hatte Paolo nur einmal vor vielen Jahren durchgeblättert und sich die einzelnen Operationen und Beschlüsse der Inquisitionskommission grob durch gelesen, aber er war sich absolut sicher, dass er schon damals etwas von einem „Goldenen Relikt der Indianer“ gelesen hatte. Konnte es wirklich sein, dass es sich hier um das gefundene Objekt aus der karibischen See handelte?

      Schon auf dem langen Weg in die unterirdischen Katakomben kombinierte Paolo die aufgetauchten Fakten mit seinen vagen Erinnerungen.

      Tatsache war, dass die versunkene Schatzgaleone zweifelsfrei unter spanischer Flagge gesegelt war - und sie kam aus Südamerika, was eigentlich nicht darauf hinwies, dass es irgendeine Verbindung zum Vatikan geben könnte.

      Doch genau hier stimmte etwas nicht und so atmete Paolo Casanate schwer, als er Minuten später, einen von zwei sorgsam verpackten Lederbänden aus einer handschriftlich beschrifteten Holzkiste holte. Ehrfurchtsvoll glitten seine alten Hände über die noch viel älteren lateinischen Buchstaben, die auf dem Leder des Bandes eingestanzt waren.

      „Scipione Caffarelli-Borghese - 1612“ das war der Titel des Buches und so holte der alte Archivar seine randlose Gleit-sichtbrille aus dem Etui und begann zu lesen. Es waren nur wenigen Zeilen in Latein aber sie waren genug, dass der greise Archivar sich erst einmal setzen musste. Doch zuerst musste sich Paolo ganz sicher sein und öffneten einen weiteren namenlosen Band aus der gleichen Epoche.

      Es war das unbekannte Rechnungsbuch in dem man Aufzeichnungen zu den Finanzen der Päpste und der vatikanischen Regierung fand. Es dauerte eine ganze Weile, bis Paolo den gesuchten Eintrag fand. Das schwere Buch ließ er auf den Eichentisch seines Büros sinken und dachte angestrengt nach. Es konnte eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, bis gewisse Fakten um diesen Würfel durch forensische Untersuchungen ans Tageslicht kommen würden.

      Als passionierter Schachspieler versuchte der alte Archivar alle Möglichkeiten im Geiste durchzuspielen, die sich aus seiner internen Recherche im Archiv ergeben hatten. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, aber zum Schluss seiner Überlegungen gab es nur eine Konsequenz. Mit einem Ruck stand der alte Mann aus dem Sessel auf, zog sein Smartphone aus der Sutane und wählte eine gespeicherte Rufnummer die er sich noch nie getraut hatte persönlich anzurufen: „Ich muss dringend den Heiligen Vater persönlich sprechen“.

       Carlon Mellon University / Pittsburg

      5. Oktober 2015

      Dr. Kasha Muratti hatte sich seit drei Tagen nicht mehr im Internet bewegt und wusste deshalb nicht das Geringste von dem neu entdeckten geheimnisvollen Goldwürfel.

      Außerdem interessierte sie sich auch nicht besonders für Unterwasserarchäologie oder alte Maya-Kulturen. Heute war ihre Antrittsvorlesung als Gastprofessorin an der Carlon Mellon University von Pittsburgh und deshalb hatte sie fast nonstop an ihrem Einstieg ins amerikanische Universitätsleben gearbeitet, Filme zusammengeschnitten, Animationen erstellt und vertont und ihre unfertige Präsentation jeden Tag mehrmals vor einer Videokamera selbst aufgenommen und wieder und wieder abgespielt. Jetzt fühlte sie sich bestens vorbereitet und konnte es kaum erwarten vor die hungrige Studentenmeute zu treten. Kasha hatte die letzten vier Jahre am „Large Hadron Collider“ (LHC) in CERN in der Schweiz