Christian Schuetz

CYTO-X


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nun eher vertrauen. Rechnete er ihm die Beichte so hoch an oder war es die Aussprache auf der Fahrt?

      Dabei war noch lange nicht alles geklärt. Erik war sich sicher, dass Brugger ihm auf die Finger schauen würde, wo er nur konnte. Deshalb war er sehr erfreut, wie die erste Begegnung mit Frau Magnussen verlief. Ihr Deutsch war ein wenig holprig, aber sie freute sich sichtlich, diese Sprache mal wieder etwas üben zu können.

      Der Professor hatte ein Talent dafür, ihre Grammatik- oder Satzbaufehler kurz zu korrigieren und trotzdem das Gespräch am Laufen zu halten. Möglicherweise hatte Frau Magnussen ein Faible für ältere Männer oder besser gesagt: Ältere Professoren?

      Die beiden harmonierten hervorragend und einigten sich schnell darauf, sich mit Vornamen anzureden. Erik hielt sich einfach dezent zurück und sammelte auf diese Weise die eine oder andere Information durch einfaches Zuhören. Das Arbeitszimmer wäre praktisch unverändert seit dem tragischen Unfall, erzählte Marit. Lediglich die Putzfrau würde dort regelmäßig für Ordnung sorgen.

      Das Einzige, was zusätzlich in das Zimmer gekommen war, wäre eine große grüne Armeekiste, in der alle Unterlagen aus Magnussens Büro an der Osloer Uni angeliefert worden waren. Marit hatte die Kiste nur ein einziges Mal geöffnet und zwei gerahmte Fotos entnommen, die obenauf lagen.

      Das Arbeitszimmer war also ein idealer Ausgangspunkt für die Suche, sofern eine von Eriks Theorien zutraf, nach der Professor Magnussen eine Spur hinterlassen haben musste, für den Fall seines Ablebens. Erik hatte als Vorbereitung für die Suche einige Thesen aufgestellt.

      These eins: Zeitreisen gibt es nicht! Er hatte sich mit der Dimensionslehre der theoretischen Physik schon oft befasst und für ihn waren die drei Dimensionen des Raums und die Zeit als vierte Dimension logisch und unverrückbar. Was er nicht akzeptieren konnte, war diese Sache mit der Krümmung von Raum und Zeit, weil damit die Dimensionen eins bis vier hinfällig oder beliebig überschreibbar wären. Eher konnte er sich eine Dimension vorstellen, die aus unendlich vielen alternativen Realitäten bestand. Aber danach? Was sollte da noch kommen?

      Er versuchte seine Philosophie immer wieder auf das Ergebnis des Analyseprogramms von Brugger anzuwenden, aber für dieses dreidimensionale Abbild des Resultats, das angeblich keine der drei Raumachsen abbildete, fand er einfach keine Erklärung. Trotzdem wollte er an seiner ersten These festhalten und dies bedeutete zwangsläufig, dass in Magnussens Aufzeichnungen irgendwo ein Fehler versteckt war. Oder eben eine absichtliche Manipulation!

      Letzteres war seine zweite These: Magnussen hatte getrickst! Warum sonst hätte er die Absicht seiner Studie vor seinem kompletten Stab verheimlichen sollen? Er hatte sich mit diesem Projekt förmlich abgeschottet und damit die Möglichkeit gehabt, vielleicht ein wenig zu schwindeln.

      These Nummer drei hatte er Brugger bereits unter die Nase gerieben: Irgendjemand hatte Magnussen gesagt, wo er suchen musste und was er finden würde! Das war die einzige Erklärung für die geradezu irrwitzige Versuchsanordnung.

      Und dann blieb da eben noch die vierte und vorläufig letzte These: Irgendwo hatte Magnussen eine Spur hinterlassen! Selbst, wenn er alles geheim gehalten und seine eigenen Assistenten an der Nase herumgeführt hatte, selbst wenn er Ergebnisse manipuliert und mit einem vielleicht mysteriösen Unbekannten zusammengearbeitet hatte: Irgendwo würde es ein Dokument oder einen Hinweis geben, worum es wirklich ging. Und Erik wollte nun beginnen, das Arbeitszimmer zu durchsuchen, weil er den Hinweis eben dort vermutete. Er konnte ihn fast schon riechen!

      Marit hatte dem Professor gerade angeboten, ihm die Filme zu zeigen, die sie mit ihrem Mann damals fürs norwegische Fernsehen gedreht hatte. Das war nun der ideale Zeitpunkt, sie zu bitten, ihn doch vorher in das Zimmer zu bringen.

      Erik würde die Papiere vorsortieren und sich melden, sobald er die Anwesenheit des Professors benötigte. Brugger schaute zwar kurz streng, so als wolle er ihn nochmal darauf hinweisen, dass er ihn im Auge haben würde, aber Frau Magnussen führte ihn, wie gewünscht, ins Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes.

      Erik konnte ihr leichtes Zögern an der Tür erkennen. Sie lächelte ihn etwas verlegen an und betrat dann mit ihm den Raum. Es war genauso, wie man sich das Arbeitszimmer eines alten, norwegischen Professors vorstellen würde. Prall gefüllte Bücherregale an allen Wänden, ein schwerer, dunkler Holzschreibtisch, ein großes Fenster mit Blick auf den See und ein angenehmer, rustikaler Geruch in der Luft, der nach all den Jahren noch verriet, dass Thorwald Magnussen hier gerne mal eine Pfeife geraucht haben musste.

      Der einzige Fremdkörper in diesem Idyll für reife Wissenschaftler war diese dunkelgrüne Armeekiste. Für Erik sah das Ding, mit knapp zwei Metern Länge und jeweils achtzig Zentimetern Breite und Höhe, eher wie ein Sarg aus.

      „Mein Mann war lange Zeit Offizier der Reserve“, sagte Marit. „Er wollte sich von diesem Monster nicht trennen und hat es irgendwann an die Uni gebracht und als Speicher verwendet. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg! Mein Mann war nicht berühmt für seinen Sinn für Ordnung.“

      Sie lächelte und legte ihre Hand kurz auf Eriks Schulter. Das war ein wenig so, als würde sie mit dieser Geste die Verantwortung für die Kiste abgeben. Und sie hatte nicht übertrieben: In der Kiste regierte das Chaos!

      Aktenmappen und einzelne Papiere, in nicht chronologisch sortierter Form, lagen zwischen Zeitschriften oder ausgeschnittenen Artikeln oder Bildern. Es war nicht immer einfach, zu erkennen, welche Papiere zu welchem Projekt gehörten.

      Erik begann damit, die Papiere herauszunehmen und auf verschiedenen Stapeln abzulegen. Anfangs plante er zwei Stapel, relevant und nicht-relevant, aber bald kamen die Stapel „vielleicht relevant“ und „interessant“ hinzu.

      Nach einer Weile begann er die nicht-relevanten Akten noch einmal zu sortieren und es entstand ein fünfter Haufen mit Akten, in denen ihm Namen von Kollegen aufgefallen waren, die vielleicht für These Nummer drei in Frage kamen. Den Informanten zu identifizieren wäre ein großer Fortschritt!

      Allerdings musste er diese Idee bald wieder begraben, weil alle diese Kollegen recht unspektakuläre Beiträge zu Magnussens Arbeit geleistet hatten, aber der nicht-relevante Stapel war mittlerweile auch zu hoch geworden und drohte zu kippen.

      In diesem Zustand seiner Suche statteten ihm Marit und Brugger einen Besuch ab. Er kniete auf dem Boden, umgeben von Papierstapeln, wie ein kleiner Junge der sein Zimmer aufräumen sollte und damit überfordert war. Dem Schmunzeln von Brugger war zu entnehmen, dass ihm dieser Vergleich ebenso bewusst schien.

      „Das wird schwierig werden!“, berichtete er den beiden leicht seufzend.

      Marit hatte eine Überraschung für Erik: „Ich habe gerade mit Arno gesprochen. Ich überlasse Ihnen die Kiste. Ich bin ganz froh, wenn sie aus dem Haus ist. Sie haben dann auch Zeit, um in Ruhe alles zu lesen.“

      Brugger stand dabei leicht hinter ihr und schaute Erik leicht grinsend an, als wolle er sagen: „Sehen Sie? So macht man das!“

      Vielleicht grinste er aber auch nur zufrieden, weil die Dame des Hauses ihn bereits „Arno“ nannte. Erik blickte über das Papiermeer, das ihn umgab und sagte: „Na, dann packe ich das mal wieder ein!“

      In diesem Moment erkannte Erik die kleine Diskrepanz bei den Innen- und Außenabmessungen der Kiste. Unterhalb der Griffe hätte der Innenraum ein wenig größer sein müssen. Auf beiden Seiten waren da anscheinend Bleche eingeschoben, hinter denen genug Platz sein musste, um vielleicht ein Buch oder etwas Vergleichbares zu verstecken.

      Die beiden Turteltauben schienen seinen Blick nicht bemerkt zu haben und waren bereits wieder gegangen. Es war ja nett, dass der Professor die Kiste „erbeutet“ hatte, aber dadurch musste Erik sich nun beeilen. Sein Plan war eigentlich, die Kiste leer zu räumen und dann mehr Zeit zu haben, weil er eben nicht nur die Akten durchstöbern wollte, sondern auch das Zimmer. Jetzt musste er also dank des Geniestreichs des Professors hetzen.

       Passiert eben, wenn man mit Laien arbeitet!

      Erik verlagerte seine Aufmerksamkeit nun schnell zum Schreibtisch. Obenauf waren nur gerahmte Bilder, die er schnell nach versteckten Zettelchen oder Ähnlichem abtastete. Danach waren die Schubladen