Bastian Litsek

Das Geschenk der Psychothriller-Parodie


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Deutschland über 68% der Männer an chronischer krankhafter Vergesslichkeit. Trotz all unserer Bemühungen gesetzlich als geistig verarmte Umstandstrottel anerkannt zu werden, sind wir es bis heute nicht. Meine Unfähigkeit, mich zu erinnern, gilt nicht als Behinderung, sonst hätte ich mich schon längst auf irgendeine Stelle beworben und hätte selbige über den Behindertenbonus ergattert. Doch so bin ich verdammt zum gesellschaftlichen Außenseiter. Kann ich denn schuld sein an mir selbst, wenn ich überhaupt nicht weiß, wieso ich bin, wie ich schon immer war?

      Abschließend hatte er fleißig mit den Augen geklimpert, um so viel Mitleid wie möglich zu erwecken. Vergesslich war er wirklich wie Sau. Er trug selten ein Paar Socken, die sich gleich waren, ganz zu schweigen von den Schuhen. Himmel, er war schon froh, wenn er Socken und Schuhe an hatte. Das waren die guten Tage! An den schlechten wartete er in Unterhosen mit der Zahnbürste auf den Bus und wusste dann schon nicht mehr, wohin er überhaupt fahren wollte.

      Er war nicht einfach, durch das Leben zu gehen, wenn man ständig vergaß, wo man hin wollte.

      Sicherlich, es hatte auch Vorteile. Er konnte die eigenen Wünsche und Träume nicht behalten, hatte praktisch keine Ansprüche, da er sich täglich neu definierte. Leider verschaffte ihm das auch eine in höchstem Maße instabile Persönlichkeit. Jemand, der nicht wusste, ob er Tomatensuppe mochte oder nicht, war schließlich zu allem fähig, nicht wahr?

      „Was würden Sie sich für Merlan wünschen?“, fragte die Paartherapeutin.

      „Ich will, dass er mir sein Geheimnis verrät.“

      „Niemals!“, rief Merlan aufbrausend, sprang auf und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Tabea.

      Frau Dr. Tulpenstein griff wieder zur Wasserflasche und besprühte Merlan so lange, bis dieser wieder Platz genommen hatte. „Aus“, schrie sie immer wieder. „So etwas machen wir nicht.“

      „Sie sehen, er ist äußerst launisch. Seine Vergesslichkeit ist gefährlich.“

      „Wisst ihr beide denn, wie das Gedächtnis funktioniert?“

      „Nein“, sagte Tabea.

      Merlan schüttelte den Kopf.

      „Ich werde es euch erklären. Habe es gerade im Internet nachgelesen. Es gibt sechs Gedächtnisarten. Das sensorische Gedächtnis speichert Sinneswahrnehmungen.“

      „Häh?“, machte Merlan.

      „Riechen und Sehen und so, du Simpel“, sagte Tabea.

      „Ach so …“

      „Dann haben wir das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur vorübergehend, welche dann bei wiederholten Eindrücken und Gedanken an das Arbeitsgedächtnis weitergeleitet werden. Dort werden sie für Wochen und Monate gespeichert und landen unter Umständen im Langzeitgedächtnis für das ganze Leben. Erinnerungen, Wissen, das ihr aus Wikipedia herausgelesen habt, und persönliche Erlebnisse landen im deklarativen Gedächtnis. Zwischen den Informationen im Langzeit- und deklarativen Gedächtnis bestehen Straßen, die den Informationsaustausch ermöglichen. Nennt man Engramme, ist aber nicht so wichtig. Wie im echten Leben sind manche dieser Straßen besser, andere schlechter und manche gar nicht ausgebaut. In deinem Fall, Merlan, hat dein geistiges Tiefbauamt wohl den Dauerstreik angekündigt. Vermutlich kann dein Gehirn aufgrund eines Defektes nicht zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterscheiden.“

      „Was genau bedeutet das?“, fragte Tabea.

      „Schwer zu sagen. Entweder das Kurzzeitgedächtnis funktioniert wie das bei einem Goldfisch, es hält nur drei Sekunden, oder aber es überträgt mit einer geradezu wahllosen Selektivität Informationen ins Langzeitgedächtnis. Und deine Gedächtnisstraßen sind schlecht ausgebaut. Schon ein Wunderwerk so ein Gehirn. Sagen wir, jemand wischt Merlans geistige Tafel immer so schnell ab, dass sie mit dem Abschreiben gar nicht hinterherkommen. Da ist guter Rat teuer. Haben Sie schon versucht, ein Notizbuch zu führen?“

      „Ja, aber ich vergesse, wo ich es abgelegt habe. Und wenn ich es finde, weiß ich nicht mehr, was ich damit anfangen soll.“

      „Ein verzwickter Fall.“

      „Dürfte ich an der Stelle anmerken, dass ich Merlan das Lesen und Schreiben beigebracht habe?“

      „Wirklich?“

      „Ja, er war Analphabet. Es hat ewig gedauert, bis er mir das gebeichtet hat. Er hat versucht, sich drumherum zu lügen, was mal absolut gar nicht funktioniert hat. Es ist gar nicht so schwer, es zu erlernen, die Hemmschwelle war das größte Manko. Wenn sich jemand erst einredet, etwas nicht zu können, ist es schwierig, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Ich habe ihm erst das Alphabet beigebracht. Dann haben wir zuerst Babybücher gelesen und später Pettersson und Findus. Irgendwann Jugendromane und später sogar die Barry-Trotter-Bücher. Seine Handschrift ist zwar eine Katastrophe, aber er kann schreiben.“

      „Bravo, Frau Drang, bravo“, sagte Frau Dr. Tulpenstein.

      „Danke.“

      „Könnten Sie bitte kurz diese Tablette nehmen?“, fragte die Therapeutin. „Wenn ich die Ihnen jetzt nicht gebe, vergesse ich es nachher wieder.“

      Jeder bekam eine rote Tablette, beide schluckten die Dinger runter, damit der Rest des Kapitels schnell zu Ende erzählt werden konnte.

      „Ja, das war wirklich lieb von dir“, lobte Merlan seine Frau. „Vergesslich zu sein, ist eine Sache, aber das mit dem Lesen und Schreiben war wirklich unangenehm.“

      „Er ist noch immer launisch wegen seiner Vergesslichkeit. Doch es hat sich vieles gebessert.“

      „Ich fühle mich wohl als Koch. Ich arbeite gerne für Paulchen Panther.“

      Tabea rollte mit den Augen.

      „Wie bitte?“, fragte die Therapeutin.

      „So nennt er unseren Chef. Der trägt immer alles in Pink und zwirbelt sich am Schnurrbart umeinander.“

      „Und er kommt immer wieder, keine Frage“, sagte Merlan und kicherte.

      In seinem Kopf wurde ein Schalter umgelegt. Er schaute sich im Raum um. Da war eine bunt gekleidete Frau, die er nicht kannte. Sie hielt ein Klemmbrett. Neben ihm saß seine Tabea. Den Raum, in dem sie sich befanden, kannte er nicht. Warum war er hier?

      Mit einem Mal wurde die Wohnung erschüttert. Die Bilderrahmen im Regal hüpften und die Erde zitterte.

      „Was ist denn jetzt los?“, fragte Merlan. Er sprang auf und schaute instinktiv aus dem Fenster.

      Draußen vor dem Haus stand es. Seine große braune Pranke war erhoben, und zwei schwarze Augen starrten ihm aus der braunen Masse an, die zu Boden tropfte. Es war riesig.

      „Oh nein“, sagte Merlan. „Es hat mich gefunden!“

      „Was?“, schrien die beiden Frauen im Chor.

      „Das Nuss-Nugat-Monster. Es will meinen Tod!“

      Die Erde wackelte wieder. Ein Schrei ertönte, und Holz splitterte. Das Monster war dabei, die Haustür einzuschlagen.

      „Ist das dein Geheimnis?“, fragte Tabea.

      „Nein“, sagte Merlan und hastet panisch im Raum umeinander.

      „Was machen wir denn jetzt?“, fragte Frau Dr. Tulpenstein.

      „Ich habe einen Plan“, sagte Merlan. „Folgt mir.“3