stand wieder der Junge von gestern davor und reichte ihm wieder einen Brief. Rigonaldos!
„Wer gab dir den Brief?“, fragte er laut und packte den Jungen.
Der war ängstlich und völlig eingeschüchtert, zeigte zum Fenster und sah hilfesuchend zu Ramona. Gustav zerrte den Jungen mit zum Fenster und sah hinaus.
Unten, von Straßenlampen beleuchtet, stand ein älterer Mann, der schweigend zu ihnen hinauf schaute. Er sah dem Buchverkäufer sehr ähnlich.
„Bleib hier, verschließe hinter mir die Tür und öffne nur mir, sobald ich zurück bin!“, rief er Ramona zu, ließ den Jungen los und stürmte auf die Straße hinaus.
Der Alte war verschwunden. Gustav lief spontan nach links die Straße entlang. Er folgte einfach seinen Instinkten.
Dann sah er in einiger Entfernung den alten Mann wieder. Der eilte gemächlich in Richtung Altstadt. Gustav rannte hinterher.
Er war barfüßig, aber wenigstens noch bekleidet. Ramona war eine miserable Auskleiderin. Nicht einmal sein Hemd konnte sie ihm ausziehen, geschweige denn die Hose! Es wäre aber auch nicht gut gewesen, würde Gustav so nackt durch Florenz rennen. Schließlich war er kein Irrer.
Gustav war schnell, hatte den Alten fast eingeholt. Nur wenige Meter war er entfernt. „Bleib stehen! Ich muss mit dir reden, nur reden!“, rief er und seine Stimme hallte durch die leeren Straßenschluchten. Der Mann blieb aber nicht stehen, entfernte sich weiter und war plötzlich verschwunden.
Atemlos stand Gustav da. Der Mann war alt, ein Greis und trotzdem war er verschwunden. Sehr wunderlich!
Gustav schaute in alle Richtungen, doch er stand allein auf einen kleinen Platz, von dem viele Straßen und Gassen abzweigten.
Plötzlich bemerkte er, wo er gelandet war. Er war schockiert, denn er stand direkt vor der versiegelten Buchhandlung.
Niemand war zu sehen. Florenz schlief in seiner erhabenen Ruhe.
Vorsichtig drückte Gustav die Türklinke des dunklen Buchladens und knurrend öffnete sich die alte Pforte einen Spalt. Als er sie endgültig öffnen und hineinschlüpfen wollte, hörte er Schritte hinter sich. Schnell zog er die schwere Holztür wieder zu.
„Was machen Sie hier, mein Herr?“, brummte eine Stimme.
Es war der Besitzer des Cafes. Ohne einen Anflug von Ängstlichkeit hielt er eine wuchtige Schrotflinte im Arm.
Auch er erkannte Gustav.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass der Laden seit Jahren verschlossen ist. Suchen Sie etwa nach Schätzen? Werden Sie hier nicht finden. Alles, was Wert hatte, wurde ins Polizeirevier abtransportiert. Ich hoffe, dass Sie nicht leichtsinniger Weise die Tür aufgebrochen haben.“
Er kniff seine finsteren Augen zusammen, griff an die Klinke und drückte sie langsam runter, doch der Laden war fest verschlossen.
„Na gut, mein Herr. Gehen Sie jetzt, ansonsten muss ich die Polizei rufen und Sie möchten doch auch keinen Ärger, oder?“, brummte er weiter.
Dabei streichelte er seine Schrotflinte und blickte Gustav scharf in die Augen. Natürlich hatte Gustav kein Bedürfnis nach Ärger. Gewalt verabscheute er zutiefst. Also nickte er dem Mann kurz zu und ging in Gedanken versunken zurück ins Hotel. Er wusste genau, dass die Tür offen war. Er hatte aber auch genau gesehen, wie der Mann die Türklinke betätigte und die Tür verschlossen blieb. Sogar das Polizeisiegel war unversehrt. Sehr merkwürdig!
Die ganze Geschichte war merkwürdig.
Es war tiefe Nacht, als er das Hotel erreichte. Ramona hatte das Zimmer nicht verschlossen, lag eingekuschelt in seinem Bett und schlief einem Engel gleich. Ihren Schlafanzug hatte sie wieder angezogen. Schade!
Gustav beschloss sie nicht zu wecken und legte sich behutsam neben ihr ins Bett. Ihren Duft atmete er zufrieden ein, berührte sie nur leicht und legte vorsichtig seine Hand auf ihren Po. Er ließ einen kleinen Abstand zwischen beiden Leibern und spürte doch die lebendige Wärme, die von ihr ausging. Selige Glücksgefühle.
Gustav fiel in tiefen Schlaf.
Er träumte viele Dinge durcheinander, sah auch Ramona, die mit einer riesigen Schrotflinte ein großes Panoramafenster durchschoss. Dann rief sie nach mehr Wein und rannte nackt durch die Straßen.
Wieder verschwanden alle Bilder und auch das fröhliche Gesicht Ramonas. Bildfetzen flogen hin und her, ohne einen Sinn zu ergeben.
Dann stand sie vor ihm.
Gustav durchlitt sofort eine unbeschreibliche Sehnsucht.
„Du warst heute sehr unklug, als du allein zu Rigonaldos bist. War meine Warnung vergebens?“, hörte er sie.
Ihre Stimme klang so vertraut und fast zerbrechlich.
Trotzdem, oder gerade deshalb, schmerzte ihr Vorwurf.
Sie nahm Gustav in ihre Arme und drückte ihn fest an sich. Geborgenheit, Wärme, Entzücken und Glück in einem einzigen Moment. Gustav spürte, wie die unendliche Sehnsucht und das Verlangen nach vollendeter Liebe seine eigenen Tränen formten und er begann heftig zu schluchzen.
„Weine nicht, denn die Zeit der Tränen wird erst noch kommen. Ich werde bei dir sein, wenn du mich brauchst. Und jetzt brauchst du Antworten. Ein Blatt Papier kann manchmal mehr enthalten als die oberflächlichen Buchstaben. Das Saure macht sichtbar, was fahle Tinte verbirgt. Und du darfst hier nicht lange Zeit verweilen. Hüte dich vor dieser Frau. Sie hat ihre eigenen Träume, die nicht deine sind.“
Dann löste sie ihre Umarmung und drohte im Schleier weiterer Träume zu entschwinden. Gustav versuchte zu schreien, wollte ihren Namen wissen und flehte sie an, nicht zu gehen. Aber nichts konnte er tun, weder sie festhalten noch hinterher rennen.
Er erwachte tränenverschmiert und schweißgebadet.
Neben sich im Bett saß Ramona aufrecht und schaute ihn verdattert an.
„Welchen Namen willst du wissen? Ich heiße Ramona, bitteschön! Außerdem heulst du im Schlaf, wie ein kleines Mädchen.“
Gustav schaute sie ebenfalls verwundert an. Hatte er etwa im Schlaf geredet? Und hatte er tatsächlich geweint, wie ein…?
„Tut mir leid, Hasenpups.“, stammelte er benommen, „Ich hatte wohl einen bösen Alptraum, wahrscheinlich von dir und deinen unsensiblen Sprüchen.“
„Unsensible? Ich? Spinnst du?“, fauchte sie.
Ramona verschränkte beleidigt ihre Arme. Mechanisch küsste Gustav versöhnlich ihren Hals und meinte etwas von:
„Nur Spaß gemacht und merkwürdigen Traum.“
Er war verwirrt, denn er hatte noch nie so einen körperlichen Traum gehabt.
Als Ramona später unter der Dusche stand, saß Gustav noch immer im Bett und dachte über seinen seltsamen Traum nach. Die nächtlichen Gefühle waren noch so präsent, körperlich und dominierend, dass er schwitzte und sein Herz raste.
Wer war dieses zauberhafte Mädchen?
Ramona konnte es nicht sein und auch nicht sein Wunschbild von Ramona, denn von ihr träumte er zu häufig und kannte sie viel zu gut.
Dieses Traumwesen war hingegen rätselhaft, ihm völlig unbekannt und gleichzeitig so sehr vertraut. Anmut, Weisheit und Erotik. Es waren für Gustav durchaus sehnsüchtige Eigenschaften, die Frauen vereinen sollten. Aber Träume sind die Spiegelbilder des realen Unterbewusstseins. Gustav konnte meist seine Träume analysieren und sicher deuten. Diesmal jedoch erkannte er die Bedeutung nicht, hatte keine Ahnung, wer und was dieses Mädchen widerspiegelte.
Verdammte Träume!
So kam er nicht weiter. Nun versuchte er den Traum einfach als tatsächliches Ereignis zu deuten. Was hatte sie gesagt?
Schlagartig sprang er auf, holte das historische Schriftstück aus seinem Buch und hielt es gegen das Licht.