Ohre zuhörte. Ich stieß meinen vielleicht etwas ermüdeten Freund an und sagte ihm leise: »Schlaf nicht! Es giebt dort für uns Etwas zu lernen. Es paßt auf uns, wenn es uns auch nicht gilt.«
Ich hörte nämlich, wie der junge Begleiter sich ziemlich erregt vertheidigte, wie dagegen der Philosoph mit immer kräftigerem Klange der Stimme ihn angriff. »Du bist unverändert,« rief er ihm zu, »leider unverändert, mir ist es unglaublich, wie du noch derselbe bist, wie vor sieben Jahren, wo ich dich zum letzten Male sah, wo ich dich mit zweifelhaften Hoffnungen entließ. Deine inzwischen übergehängte moderne Bildungshaut muß ich dir leider wieder, nicht zu meinem Vergnügen, abziehn – und was finde ich darunter? Zwar den gleichen unveränderlichen »intellegibeln« Charakter, wie ihn Kant versteht, aber leider auch den unveränderten intellektuellen – was wahrscheinlich auch eine Nothwendigkeit, aber eine wenig tröstliche ist. Ich frage mich, wozu ich als Philosoph gelebt habe, wenn ganze Jahre, die du in meinem Umgang verlebt hast, bei nicht stumpfem Geiste und wirklicher Lernbegierde, doch keine deutlicheren Impressionen zurückgelassen haben! Jetzt benimmst du dich, als hättest du noch nie, in Betreff aller Bildung, den Cardinalsatz gehört, auf den ich doch so oft, in unserem früheren Verkehr, zurückgekommen bin. Nun, welches war der Satz?«
»Ich erinnere mich,« antwortete der gescholtene Schüler; »Sie pflegten zu sagen, es würde kein Mensch nach Bildung streben, wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. Und trotzdem sei auch diese kleine Anzahl von wahrhaft Gebildeten nicht einmal möglich, wenn nicht eine große Masse, im Grunde gegen ihre Natur, und nur durch eine verlockende Täuschung bestimmt, sich mit der Bildung einließe. Man dürfe deshalb von jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat nichts öffentlich verrathen; hier stecke das eigentliche Bildungsgeheimniß: daß nämlich zahllose Menschen scheinbar für sich, im Grunde nur, um einige wenige Menschen möglich zu machen, nach Bildung ringen, für die Bildung arbeiten.«
»Dies ist der Satz,« sagte der Philosoph – »und doch konntest du so seinen wahren Sinn vergessen, um zu glauben, selber einer jener Wenigen zu sein? Daran hast du gedacht – ich merke es wohl. Das aber gehört zu der nichtswürdigen Signatur unserer gebildeten Gegenwart. Man demokratisirt die Rechte des Genius, um der eignen Bildungsarbeit und Bildungsnoth enthoben zu sein. Es will sich ein Jeder womöglich im Schatten des Baumes niederlassen, den der Genius gepflanzt hat. Man möchte sich jener schweren Nothwendigkeit entziehn, für den Genius arbeiten zu müssen, um seine Erzeugung möglich zu machen. Wie? Du bist zu stolz, ein Lehrer sein zu wollen? Du verachtest die sich herandrängende Menge der Lernenden? Du sprichst mit Geringschätzung über die Aufgabe des Lehrers? Und möchtest dann, in einer feindseligen Abgrenzung von jener Menge, ein einsames Leben führen, mich und meine Lebensweise copirend? Du glaubst im Sprunge sofort Das erreichen zu können, was ich, nach langem hartnäckigem Kampfe, um als Philosoph überhaupt nur leben zu können, mir endlich erringen mußte? Und du fürchtest nicht, daß die Einsamkeit sich an dir rächen werde? Versuche es nur, ein Bildungseinsiedler zu sein – man muß einen überschüssigen Reichthum haben, um von sich aus für Alle leben zu können! – Sonderbare Jünger! Gerade immer das Schwerste und Höchste, was eben nur dem Meister möglich geworden ist, glauben sie nachmachen zu müssen: während gerade sie wissen sollten, wie schwer und gefährlich dies sei und wie viele treffliche Begabungen noch daran zu Grunde gehen könnten!«
»Ich will Ihnen Nichts verbergen, mein Lehrer,« sagte hier der Begleiter. »Ich habe zu viel von Ihnen gehört und bin zu lange in Ihrer Nähe gewesen, um mich unserem jetzigen Bildungs- und Erziehungswesen noch mit Haut und Haar hingeben zu können. Ich empfinde zu deutlich jene heillosen Irrthümer und Mißstände, auf die Sie mit dem Finger zu zeigen pflegten – und doch merke ich wenig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tapferem Kampfe, Erfolge haben würde. Eine allgemeine Muthlosigkeit überkam mich; die Flucht in die Einsamkeit war nicht Hochmuth, nicht Überhebung. Ich will Ihnen gern beschreiben, welche Signatur ich an den jetzt so lebhaft und zudringlich sich bewegenden Bildungs- und Erziehungsfragen vorgefunden habe. Es schien mir, daß ich zwei Hauptrichtungen unterscheiden müsse, – zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche, in ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen beherrschen die Gegenwart unsrer Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach möglichster Erweiterung und Verbreitung der Bildung, dann der Trieb nach Verringerung und Abschwächung der Bildung selbst. Die Bildung soll aus verschiedenen Gründen in die allerweitesten Kreise getragen werden – das verlangt die eine Tendenz. Die andere muthet dagegen der Bildung selbst zu, ihre höchsten edelsten und erhabensten Ansprüche aufzugeben und sich im Dienste irgend einer andern Lebensform, etwa des Staates, zu bescheiden.
Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntnis; und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis; – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definirt werden als die Einsicht mit der man sich »auf der Höhe seiner Zeit« hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht. Die eigentliche Bildungsaufgabe wäre demnach, möglichst »courante« Menschen zu bilden, in der Art Dessen, was man an einer Münze »courant« nennt. Je mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade Das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, Jeden so weit zu fördern, als es in seiner Natur liegt »courant« zu werden, Jeden derartig auszubilden, daß er von seinem Maaß von Erkenntnis; und Wissen das größtmögliche Maaß von Glück und Gewinn hat. Ein Jeder müsse sich selbst genau taxiren können, er müsse wissen, wie viel er vom Leben zu fordern habe. Der »Bund von Intelligenz und Besitz«, den man nach diesen Anschauungen behauptet, gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Jede Bildung ist hier verhaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als »höheren Egoismus«, als »unsittlichen Bildungsepikureismus«