Auf alle Excesse der Form und des Gedankens, das heißt auf alles Das, was in diesem Alter überhaupt charakteristisch und individuell ist. Das eigentlich Selbständige, das sich, bei dieser allzufrühzeitigen Erregung, eben nur und ganz allein in Ungeschicklichkeiten, in Schärfen und grotesken Zügen äußern kann, also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zu Gunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen. Dagegen bekommt die uniformirte Mittelmäßigkeit das verdrossen gespendete Lob: denn gerade bei ihr pflegt sich der Lehrer aus guten Gründen sehr zu langweilen.
Vielleicht giebt es noch Menschen, die in dieser ganzen Komödie der deutschen Arbeit auf dem Gymnasium nicht nur das allerabsurdeste, sondern auch das allergefährlichste Element des jetzigen Gymnasiums sehen. Hier wird Originalität verlangt, aber die in jenem Alter einzig mögliche wiederum verworfen: hier wird eine formale Bildung vorausgesetzt, zu der jetzt überhaupt nur die allerwenigsten Menschen im reifen Alter kommen. Hier wird Jeder ohne Weiteres als ein litteraturfähiges Wesen betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur darauf hin mit allem Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urtheils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Scepter des Genius zu gewöhnen. Hier wird eine Form der Darstellung in größerem Rahmen vorausgesetzt, in einem Alter, in dem jeder gesprochne oder geschriebene Satz eine Barbarei ist. Nun denken wir uns noch die Gefahr hinzu, die in der leicht erregten Selbstgefälligkeit jener Jahre liegt, denken wir an die eitle Empfindung, mit der der Jüngling jetzt zum ersten Male sein literarisches Bild im Spiegel sieht – wer möchte, alle diese Wirkungen mit einem Blick erfassend, daran zweifeln, daß alle Schäden unserer litterarisch-künstlerischen Öffentlichkeit hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von Neuem aufgeprägt werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit, das Ungegohrene und Charakterlose oder Kläglich-Gespreizte im Ausdruck, der Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos, kurz die litterarischen Züge unsrer Journalistik ebenso wie unseres Gelehrtenthums.
Davon wissen jetzt die Wenigsten etwas, daß vielleicht unter vielen Tausenden kaum Einer berechtigt ist, sich schriftstellerisch vernehmen zu lassen, und daß alle Anderen, die es auf ihre Gefahr versuchen, unter wahrhaft urtheilsfähigen Menschen als Lohn für jeden gedruckten Satz ein homerisches Gelächter verdienen – denn es ist wirklich ein Schauspiel für Götter, einen litterarischen Hephäst heranhinken zu sehn, der uns nun gar Etwas credenzen will. Auf diesem Bereiche zu ernsten und unerbittlichen Gewöhnungen und Anschauungen zu erziehn, das ist eine der höchsten Aufgaben der formellen Bildung, während das allseitige Gewährenlassen der sogenannten »freien Persönlichkeit« wohl nichts Anderes als das Kennzeichen der Barbarei sein möchte. Daß aber wenigstens bei dem deutschen Unterricht nicht an Bildung, sondern an etwas Anderes gedacht wird, nämlich an die besagte »freie Persönlichkeit«, dürfte aus dem bis jetzt Berichteten wohl deutlich geworden sein. Und so lange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen, als ob sie nur ein nothwendiges Übel oder ein todter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Institutionen wahrer Bildung.
Am wenigsten wohl merkt man, in Hinsicht der Sprache, etwas von dem Einflusse des classischen Vorbildes: weshalb mir schon von dieser einen Erwägung aus die sogenannte »classische Bildung«, die von unserem Gymnasium ausgehn soll, als etwas sehr Zweifelhaftes und Mißverständliches erscheint. Denn wie könnte man, bei einem Blicke auf jenes Vorbild, den ungeheuren Ernst übersehn, mit dem der Grieche und Römer seine Sprache von den Jünglingsjahren an betrachtet und behandelt, – wie könnte man sein Vorbild in einem solchen Punkte verkennen, wenn anders wirklich noch die classisch-hellenische und römische Welt als höchstes belehrendes Muster dem Erziehungsplan unserer Gymnasien vorschwebte: woran ich wenigstens zweifle. Vielmehr scheint es sich, bei dem Anspruche des Gymnasiums, »classische Bildung« zu pflegen, nur um eine verlegene Ausrede zu handeln, welche dann angewendet wird, wenn von irgend einer Seite her dem Gymnasium die Befähigung, zur Bildung zu erziehen, abgesprochen wird. Classische Bildung! Es klingt so würdevoll! Es beschämt den Angreifenden, es verzögert den Angriff – denn wer vermag gleich dieser verwirrenden Formel bis auf den Grund zu sehn! Und das ist die längst gewohnte Taktik des Gymnasiums: je nach der Seite, von der aus der Ruf zum Kampfe erschallt, schreibt es auf sein nicht gerade mit Ehrenzeichen geschmücktes Schild eines jener verwirrenden Schlagworts »classische Bildung« »formale Bildung« oder »Bildung zur Wissenschaft«: drei gloriose Dinges die nur leider theils in sich, theils unter einander im Widerspruche sind und die, wenn sie gewaltsam zusammengebracht würden, nur einen Bildungstragelaph hervorbringen müßten. Denn eine wahrhafte »classische Bildung« ist etwas so unerhört Schweres und Seltenes und fordert eine so complicirte Begabung, daß es nur der Naivetät oder der Unverschämtheit vorbehalten ist, diese als erreichbares Ziel des Gymnasiums zu versprechen. Die Bezeichnung »formale Bildung« gehört unter die rohe unphilosophische Phraseologie, deren man sich möglichst entschlagen muß: denn es giebt keine »materielle Bildung«. Und wer die »Bildung zur Wissenschaft« als das Ziel des Gymnasiums aufstellt, giebt damit die »classische Bildung« und die sogenannte »formale Bildung«, überhaupt das ganze Bildungsziel des Gymnasiums preis: denn der wissenschaftliche Mensch und der gebildete Mensch gehören zwei verschiedenen Sphären an, die hier und da sich in einem Individuum berühren, nie aber mit einander zusammenfallen.
Vergleichen wir diese drei angeblichen Ziele des Gymnasiums mit der Wirklichkeit, die wir in Betreff des deutschen Unterrichtes beobachteten, so erkennen wir, was diese Ziele zumeist im gewöhnlichen Gebrauche sind: Verlegenheitsausflüchte, für den Kampf und Krieg erdacht und wirklich auch zur Betäubung des Gegners oft genug geeignet. Denn wir vermochten am deutschen Unterricht Nichts zu erkennen, was irgendwie an das classisch-antike Vorbild, an die antike Großartigkeit der sprachlichen Erziehung erinnerte: die »formale Bildung« aber, die durch den besagten deutschen