endlich doch fragt: »Was ist mir diese Gestalt einer Göttin? Was nützen mir die Gedanken, die sie in mir erwachen läßt? Orest und Ödipus, Iphigenie und Antigone, was haben sie gemein mit meinem Herzen?« – Nein, meine Gymnasiasten, die Venus von Milo geht euch nichts an: aber eure Lehrer ebensowenig – und das ist das Unglück, das ist das Geheimniß des jetzigen Gymnasiums. Wer wird euch zur Heimat der Bildung führen, wenn eure Führer blind sind und gar noch als Sehende sich ausgeben! Wer von euch wird zu einem wahren Gefühl für den heiligen Ernst der Kunst kommen, wenn ihr mit Methode verwöhnt werdet, selbständig zu stottern, wo man euch lehren sollte zu sprechen, selbständig zu ästhetisiren, wo man euch anleiten sollte vor dem Kunstwerk andächtig zu sein, selbständig zu philosophiren, wo man euch zwingen sollte, auf große Denker zu hören: Alles mit dem Resultat, daß ihr dem Alterthume ewig fern bleibt und Diener des Tages werdet.
Das Heilsamste, was die jetzige Institution des Gymnasiums in sich birgt, liegt jedenfalls in dem Ernste, mit dem die lateinische und griechische Sprache durch eine ganze Reihe von Jahren hindurch behandelt wird: hier lernt man den Respekt vor einer regelrecht fixirten Sprache, vor Grammatik und Lexikon, hier weiß man noch, was ein Fehler ist, und wird nicht jeden Augenblick durch den Anspruch incommodirt, daß auch grammatische und orthographische Grillen und Unarten, wie in dem deutschen Stil der Gegenwart, sich berechtigt fühlen. Wenn nur dieser Respekt vor der Sprache nicht so in der Luft hängen bliebe, gleichsam als eine theoretische Bürde, von der man sich bei seiner Muttersprache sofort wieder entlastet! Gewöhnlich pflegt vielmehr der lateinische oder griechische Lehrer selbst mit dieser Muttersprache wenig Umstände zu machen, er behandelt sie von vornherein als ein Bereich, auf dem man sich von der strengen Zucht des Lateinischen und des Griechischen wieder erholen darf, auf dem wieder die lässige Gemüthlichkeit erlaubt ist, mit der der Deutsche alles Heimische zu behandeln pflegt. Jene herrlichen Übungen, aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, die auf das heilsamste auch den künstlerischen Sinn für die eigne Sprache befruchten können, sind nach der Seite des Deutschen hin niemals mit der gebührenden kategorischen Strenge und Würde durchgeführt wurden, die hier, als bei einer undisciplinirten Sprache, vor Allem noth thut. Neuerdings verschwinden auch diese Übungen immer mehr: man begnügt sich, die fremden klassischen Sprachen zu wissen, man verschmäht es sie zu können.
Hier bricht wieder die gelehrtenhafte Tendenz in der Auffassung des Gymnasiums durch: ein Phänomen, welches auf die in früherer Zeit einmal ernst genommene Humanitätsbildung als Ziel des Gymnasiums ein aufklärendes Licht wirft. Es war die Zeit unserer großen Dichter, das heißt jener wenigen wahrhaft gebildeten Deutschen, als von dem großartigen Friedrich August Wolf der neue, von Griechenland und Rom her durch jene Männer strömende classische Geist auf das Gymnasium geleitet wurde; seinem kühnen Beginnen gelang es, ein neues Bild des Gymnasiums aufzustellen, das von jetzt ab nicht etwa nur noch eine Pflanzstätte der Wissenschaft, sondern vor Allem die eigentliche Weihestätte für allhöhere und edlere Bildung werden sollte.
Von den äußerlich dazu nöthig erscheinenden Maßregeln sind sehr wesentliche mit dauerndem Erfolge auf die moderne Gestaltung des Gymnasiums übergegangen: nur ist gerade das Wichtigste nicht gelungen, die Lehrer selbst mit diesem neuen Geiste zu weihen, so daß sich inzwischen das Ziel des Gymnasiums wieder bedeutend von jener durch Wolf angestrebten Humanitätsbildung entfernt hat. Vielmehr hat die alte, von Wolf selbst überwundene absolute Schätzung der Gelehrsamkeit und der gelehrten Bildung allmählich nach mattem Kampfe die Stelle des eingedrungnen Bildungsprincips eingenommen und behauptet jetzt wieder, wenngleich nicht mit der früheren Offenheit, sondern maskirt, und mit verhülltem Angesicht, ihre alleinige Berechtigung. Und daß es nicht gelingen wollte, das Gymnasium in den großartigen Zug der classischen Bildung zu bringen, lag in dem undeutschen, beinahe ausländischen oder kosmopolitischen Charakter dieser Bildungsbemühungen, in dem Glauben, daß es möglich sei, sich den heimischen Boden unter den Füßen fortzuziehn und dann doch noch feststehen zu können, in dem Wahne, daß man in die entfremdete hellenische Welt durch Verleugnung des deutschen, überhaupt des nationalen Geistes gleichsam direkt und ohne Brücken hineinspringen könne.
Freilich muß man verstehn, diesen deutschen Geist erst in seinen Verstecken, unter modischen Überkleidungen oder unter Trümmerhaufen, aufzusuchen, man muß ihn so lieben, um sich auch seiner verkümmerten Form nicht zu schämen, man muß vor Allem sich hüten, ihn nicht mit Dem zu verwechseln, was sich jetzt mit stolzer Gebärde als »deutsche Cultur der Jetztzeit« bezeichnet. Mit dieser ist vielmehr jener Geist innerlich verfeindet: und gerade in den Sphären, über deren Mangel an Cultur jene »Jetztzeit« zu klagen pflegt, hat sich oftmals gerade jener ächte deutsche Geist, wenngleich nicht in anmuthender Form und unter rohen Äußerlichkeiten erhalten. Was dagegen sich jetzt mit besonderem Dünkel »deutsche Cultur« nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamente ungermanische Civilisation der Franzosen, die talentlos und mit unsicherstem Geschmack nachgeahmt wird und in dieser Nachahmung der deutschen Gesellschaft und Presse, Kunst und Stilistik eine gleißnerische Form giebt. Freilich bringt es diese Copie nirgends zu einer so künstlerisch abgeschlossenen Wirkung, wie sie jene originale, aus dem Wesen des Romanischen hervorgewachsene Civilisation fast bis auf unsre Tage in Frankreich hervorbringt. Um diesen Gegensatz nachzuempfinden, vergleiche man unsere namhaftesten deutschen Romanschreiber mit jedem auch weniger namhaften französischen oder italiänischen: auf beiden Seiten dieselben zweifelhaften Tendenzen und Ziele, dieselben noch zweifelhafteren Mittel, aber dort mit künstlerischem Ernst, mindestens mit sprachlicher Correktheit, oft mit Schönheit verbunden, überall der Wiederklang einer entsprechenden gesellschaftlichen Cultur, hier Alles unoriginal, schlotterig, im Hausrocke des Gedankens und des Ausdrucks oder unangenehm gespreizt, dazu ohne jeden Hintergrund einer wirklichen gesellschaftlichen Form, höchstens durch gelehrte Manieren und Kenntnisse daran erinnernd, daß in Deutschland der verdorbene Gelehrte, in den romanischen Ländern der künstlerisch gebildete Mensch zum Journalisten wird. Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Cultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen: in ihr beschämt ihn der Franzose und der Italiäner und, was die geschickte Nachahmung einer