des Gymnasiums bis jetzt fast nur auf zweifelhaften ästhetisirenden Liebhabereien einzelner Lehrer oder auf der rein stofflichen Wirkung gewisser Tragödien und Romane ruht: man muß aber selbst aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist, man muß nach langem Suchen und Ringen auf die Bahn gelangen, auf der unsre großen Dichter schritten, um nachzufühlen wie leicht und schön sie auf ihr schritten, und wie ungelenk oder gespreizt die Andern hinter ihnen dreinfolgen.
Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch jenen physischen Ekel vor der so beliebten und so gepriesenen »Eleganz« des Stils unsrer Zeitungsfabrik. Arbeiter und Romanschreiber, vor der »gewählten Diktion« unserer Litteraten, und ist mit einem Schlage und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben, zum Beispiel ob Auerbach oder Gutzkow wirklich Dichter sind: man kann sie einfach vor Ekel nicht mehr lesen, damit ist die Frage entschieden. Glaube Niemand, daß es leicht ist, sein Gefühl bis zu jenem physischen Ekel auszubilden: aber hoffe auch Niemand auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urtheile zu kommen als auf dem dornigen Pfade der Sprache, und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht.
Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie Demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat, genöthigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsere »elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen gelernt: und an unsern Gymnasien lernt man, wie unsere Schriftsteller beweisen, nicht gehen. Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung: welche, wenn sie nur recht begonnen ist, nachher auch gegen jene »eleganten« Schriftsteller eine physische Empfindung erzeugt, die man »Ekel« nennt.
Hier erkennen wir die verhängnißvollen Consequenzen unseres jetzigen Gymnasiums: dadurch daß es nicht im Stande ist, die rechte und strenge Bildung, die vor Allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch daß es vielmehr besten Falls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen Triebe überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig anzutreffende Bündniß der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks, der Wissenschaft mit der Journalistik. Man kann heute in ungeheurer Allgemeinheit die Wahrnehmung machen, daß unsere Gelehrten von jener Bildungshöhe abgefallen und heruntergesunken sind, die das deutsche Wesen unter den Bemühungen Goethe’s, Schiller’s, Lessings und Winckelmann’s erreicht hatte: ein Abfall, der sich eben in der gröblichen Art von Mißverständnissen zeigt, denen jene Männer unter uns, bei den Literaturhistorikern ebensowohl – ob sie nun Gervinus oder Julian Schmidt heißen – als in jeder Geselligkeit, ja fast in jedem Gespräch unter Männern und Frauen, ausgesetzt sind. Am meisten aber und am schmerzlichsten zeigt sich gerade dieser Abfall in der pädagogischen, auf das Gymnasium bezüglichen Litteratur. Es kann bezeugt werden, daß der einzige Werth, den jene Männer für eine wahre Bildungsanstalt haben, während eines halben Jahrhunderts und länger nicht einmal ausgesprochen, geschweige denn anerkannt worden ist: der Werth jener Männer als der vorbereitenden Führer und Mystagogen der classischen Bildung, an deren Hand allein der richtige Weg, der zum Alterthum führt, gefunden werden kann.
Jede sogenannte classische Bildung hat nur einen gesunden und natürlichen Ausgangspunkt, die künstlerisch ernste und strenge Gewöhnung im Gebrauch der Muttersprache: für diese aber und für das Geheimniß der Form wird selten Jemand von innen heraus, aus eigner Kraft zu dem rechten Pfade geleitet, während alle Anderen jene großen Führer und Lehrmeister brauchen und sich ihrer Hut anvertrauen müssen. Es giebt aber gar keine classische Bildung, die ohne diesen erschlossenen Sinn für die Form wachsen könnte. Hier, wo allmählich das unterscheidende Gefühl für die Form und für die Barbarei erwacht, regt sich zum ersten Male die Schwinge, die der rechten und einzigen Bildungsheimat, dem griechischen Alterthum zu trägt. Freilich würden wir bei dem Versuche, uns jener unendlich fernen und mit diamantenen Wällen umschlossenen Burg des Hellenischen zunähen, mit alleiniger Hülfe jener Schwinge nicht gerade weit kommen: sondern von Neuem brauchen wir dieselben Führer, dieselben Lehrmeister, unsre deutschen Klassiker, um unter dem Flügelschlage ihrer antiken Bestrebungen selbst mit hinweggerissen zu werden – dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland.
Von diesem allein möglichen Verhältnisse zwischen unseren Klassikern und der classischen Bildung ist freilich kaum ein Laut in die alterthümlichen Mauern des Gymnasiums gedrungen. Die Philologen sind vielmehr unverdrossen bemüht, auf eigne Hand ihren Homer und Sophokles an die jungen Seelen heranzubringen, und nennen das Resultat ohne Weiteres mit einem unbeanstandeten Euphemismus »classische Bildung«. Mag sich jeder an seinen Erfahrungen prüfen, was er von Homer und Sophokles, an der Hand jener unverdrossenen Lehrer, gehabt hat. Hier ist ein Bereich der allerhäufigsten und stärksten Täuschungen und der unabsichtlich verbreiteten Mißverständnisse. Ich habe noch nie in dem deutschen Gymnasium auch nur eine Faser von Dem vorgefunden, was sich wirklich »classische Bildung« nennen dürfte: und dies ist nicht verwunderlich, wenn man denkt, wie sich das Gymnasium von den deutschen Classikern und von der deutschen Sprachzucht emancipirt hat. Mit einem Sprung in’s Blaue kommt Niemand in’s Alterthum: und doch ist die ganze Art, wie man auf den Schulen mit antiken Schriftstellern verkehrt, das redliche Commentiren und Paraphrasiren unserer philologischen Lehrer ein solcher Sprung in’s Blaue.
Das Gefühl für das Classisch-Hellenische ist nämlich ein so seltenes Resultat des angestrengtesten Bildungskampfes und der künstlerischen Begabung, daß nur durch ein grobes Mißverständniß das Gymnasium bereits den Anspruch erheben kann, dies Gefühl zu wecken.