Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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des Gym­na­si­ums bis jetzt fast nur auf zwei­fel­haf­ten äs­the­ti­si­ren­den Lieb­ha­be­rei­en ein­zel­ner Leh­rer oder auf der rein stoff­li­chen Wir­kung ge­wis­ser Tra­gö­di­en und Ro­ma­ne ruht: man muß aber selbst aus Er­fah­rung wis­sen, wie schwer die Spra­che ist, man muß nach lan­gem Su­chen und Rin­gen auf die Bahn ge­lan­gen, auf der uns­re großen Dich­ter schrit­ten, um nach­zu­füh­len wie leicht und schön sie auf ihr schrit­ten, und wie un­ge­lenk oder ge­spreizt die An­dern hin­ter ih­nen dre­in­fol­gen.

      Erst durch eine sol­che Zucht be­kommt der jun­ge Mensch je­nen phy­si­schen Ekel vor der so be­lieb­ten und so ge­prie­se­nen »Ele­ganz« des Stils uns­rer Zei­tungs­fa­brik. Ar­bei­ter und Ro­man­schrei­ber, vor der »ge­wähl­ten Dik­ti­on« un­se­rer Lit­te­ra­ten, und ist mit ei­nem Schla­ge und end­gül­tig über eine gan­ze Rei­he von recht ko­mi­schen Fra­gen und Skru­peln hin­aus­ge­ho­ben, zum Bei­spiel ob Au­er­bach oder Gutz­kow wirk­lich Dich­ter sind: man kann sie ein­fach vor Ekel nicht mehr le­sen, da­mit ist die Fra­ge ent­schie­den. Glau­be Nie­mand, daß es leicht ist, sein Ge­fühl bis zu je­nem phy­si­schen Ekel aus­zu­bil­den: aber hof­fe auch Nie­mand auf ei­nem an­de­ren Wege zu ei­nem äs­the­ti­schen Urt­hei­le zu kom­men als auf dem dor­ni­gen Pfa­de der Spra­che, und zwar nicht der sprach­li­chen For­schung, son­dern der sprach­li­chen Selbst­zucht.

      Hier muß es je­dem ernst­haft sich Be­mü­hen­den so er­ge­hen, wie Demje­ni­gen, der als er­wach­se­ner Mensch, etwa als Sol­dat, ge­nö­thigt ist ge­hen zu ler­nen, nach­dem er vor­her im Ge­hen ro­her Di­let­tant und Em­pi­ri­ker war. Es sind müh­se­li­ge Mo­na­te: man fürch­tet daß die Seh­nen rei­ßen möch­ten, man ver­liert alle Hoff­nung, daß die künst­lich und be­wußt er­lern­ten Be­we­gun­gen und Stel­lun­gen der Füße je­mals be­quem und leicht aus­ge­führt wer­den: man sieht mit Schre­cken, wie un­ge­schickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürch­tet je­des Ge­hen ver­lernt zu ha­ben und das rech­te Ge­hen nie zu ler­nen. Und plötz­lich wie­der­um merkt man, daß aus den künst­lich ein­ge­üb­ten Be­we­gun­gen be­reits wie­der eine neue Ge­wohn­heit und zwei­te Na­tur ge­wor­den ist, und daß die alte Si­cher­heit und Kraft des Schrit­tes ge­stärkt und selbst mit ei­ni­ger Gra­zie im Ge­fol­ge zu­rück­kehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Ge­hen ist, und darf sich über den ro­hen Em­pi­ri­ker oder über den ele­gant sich ge­bär­den­den Di­let­tan­ten des Ge­hens lus­tig ma­chen. Un­se­re »ele­gant« ge­nann­ten Schrift­stel­ler ha­ben, wie ihr Stil be­weist, nie ge­hen ge­lernt: und an un­sern Gym­na­si­en lernt man, wie un­se­re Schrift­stel­ler be­wei­sen, nicht ge­hen. Mit der rich­ti­gen Gan­gart der Spra­che aber be­ginnt die Bil­dung: wel­che, wenn sie nur recht be­gon­nen ist, nach­her auch ge­gen jene »ele­gan­ten« Schrift­stel­ler eine phy­si­sche Emp­fin­dung er­zeugt, die man »Ekel« nennt.

      Hier er­ken­nen wir die ver­häng­niß­vol­len Con­se­quen­zen un­se­res jet­zi­gen Gym­na­si­ums: da­durch daß es nicht im Stan­de ist, die rech­te und stren­ge Bil­dung, die vor Al­lem Ge­hor­sam und Ge­wöh­nung ist, ein­zu­pflan­zen, da­durch daß es viel­mehr bes­ten Falls in der Er­re­gung und Be­fruch­tung der wis­sen­schaft­li­chen Trie­be über­haupt zu ei­nem Zie­le kommt, er­klärt sich je­nes so häu­fig an­zu­tref­fen­de Bünd­niß der Ge­lehr­sam­keit mit der Bar­ba­rei des Ge­schmacks, der Wis­sen­schaft mit der Jour­na­lis­tik. Man kann heu­te in un­ge­heu­rer All­ge­mein­heit die Wahr­neh­mung ma­chen, daß un­se­re Ge­lehr­ten von je­ner Bil­dungs­hö­he ab­ge­fal­len und her­un­ter­ge­sun­ken sind, die das deut­sche We­sen un­ter den Be­mü­hun­gen Goethe’s, Schil­ler’s, Les­sings und Win­ckel­mann’s er­reicht hat­te: ein Ab­fall, der sich eben in der gröb­li­chen Art von Miß­ver­ständ­nis­sen zeigt, de­nen jene Män­ner un­ter uns, bei den Li­te­ra­tur­his­to­ri­kern eben­so­wohl – ob sie nun Ger­vi­nus oder Ju­li­an Schmidt hei­ßen – als in je­der Ge­sel­lig­keit, ja fast in je­dem Ge­spräch un­ter Män­nern und Frau­en, aus­ge­setzt sind. Am meis­ten aber und am schmerz­lichs­ten zeigt sich ge­ra­de die­ser Ab­fall in der päd­ago­gi­schen, auf das Gym­na­si­um be­züg­li­chen Lit­te­ra­tur. Es kann be­zeugt wer­den, daß der ein­zi­ge Werth, den jene Män­ner für eine wah­re Bil­dungs­an­stalt ha­ben, wäh­rend ei­nes hal­b­en Jahr­hun­derts und län­ger nicht ein­mal aus­ge­spro­chen, ge­schwei­ge denn an­er­kannt wor­den ist: der Werth je­ner Män­ner als der vor­be­rei­ten­den Füh­rer und Mys­t­ago­gen der clas­si­schen Bil­dung, an de­ren Hand al­lein der rich­ti­ge Weg, der zum Al­ter­thum führt, ge­fun­den wer­den kann.

      Jede so­ge­nann­te clas­si­sche Bil­dung hat nur einen ge­sun­den und na­tür­li­chen Aus­gangs­punkt, die künst­le­risch erns­te und stren­ge Ge­wöh­nung im Ge­brauch der Mut­ter­spra­che: für die­se aber und für das Ge­heim­niß der Form wird sel­ten Je­mand von in­nen her­aus, aus eig­ner Kraft zu dem rech­ten Pfa­de ge­lei­tet, wäh­rend alle An­de­ren jene großen Füh­rer und Lehr­meis­ter brau­chen und sich ih­rer Hut an­ver­trau­en müs­sen. Es giebt aber gar kei­ne clas­si­sche Bil­dung, die ohne die­sen er­schlos­se­nen Sinn für die Form wach­sen könn­te. Hier, wo all­mäh­lich das un­ter­schei­den­de Ge­fühl für die Form und für die Bar­ba­rei er­wacht, regt sich zum ers­ten Male die Schwin­ge, die der rech­ten und ein­zi­gen Bil­dungs­hei­mat, dem grie­chi­schen Al­ter­thum zu trägt. Frei­lich wür­den wir bei dem Ver­su­che, uns je­ner un­end­lich fer­nen und mit dia­man­te­nen Wäl­len um­schlos­se­nen Burg des Hel­le­ni­schen zunä­hen, mit al­lei­ni­ger Hül­fe je­ner Schwin­ge nicht ge­ra­de weit kom­men: son­dern von Neu­em brau­chen wir die­sel­ben Füh­rer, die­sel­ben Lehr­meis­ter, uns­re deut­schen Klas­si­ker, um un­ter dem Flü­gel­schla­ge ih­rer an­ti­ken Be­stre­bun­gen selbst mit hin­weg­ge­ris­sen zu wer­den – dem Lan­de der Sehn­sucht zu, nach Grie­chen­land.

      Von die­sem al­lein mög­li­chen Ver­hält­nis­se zwi­schen un­se­ren Klas­si­kern und der clas­si­schen Bil­dung ist frei­lich kaum ein Laut in die al­tert­hüm­li­chen Mau­ern des Gym­na­si­ums ge­drun­gen. Die Phi­lo­lo­gen sind viel­mehr un­ver­dros­sen be­müht, auf eig­ne Hand ih­ren Ho­mer und So­pho­kles an die jun­gen See­len her­an­zu­brin­gen, und nen­nen das Re­sul­tat ohne Wei­te­res mit ei­nem un­be­an­stan­de­ten Eu­phe­mis­mus »clas­si­sche Bil­dung«. Mag sich je­der an sei­nen Er­fah­run­gen prü­fen, was er von Ho­mer und So­pho­kles, an der Hand je­ner un­ver­dros­se­nen Leh­rer, ge­habt hat. Hier ist ein Be­reich der al­ler­häu­figs­ten und stärks­ten Täu­schun­gen und der un­ab­sicht­lich ver­brei­te­ten Miß­ver­ständ­nis­se. Ich habe noch nie in dem deut­schen Gym­na­si­um auch nur eine Fa­ser von Dem vor­ge­fun­den, was sich wirk­lich »clas­si­sche Bil­dung« nen­nen dürf­te: und dies ist nicht ver­wun­der­lich, wenn man denkt, wie sich das Gym­na­si­um von den deut­schen Clas­si­kern und von der deut­schen Sprach­zucht eman­ci­pirt hat. Mit ei­nem Sprung in’s Blaue kommt Nie­mand in’s Al­ter­thum: und doch ist die gan­ze Art, wie man auf den Schu­len mit an­ti­ken Schrift­stel­lern ver­kehrt, das red­li­che Com­men­ti­ren und Pa­ra­phra­si­ren un­se­rer phi­lo­lo­gi­schen Leh­rer ein sol­cher Sprung in’s Blaue.

      Das Ge­fühl für das Clas­sisch-Hel­le­ni­sche ist näm­lich ein so sel­te­nes Re­sul­tat des an­ge­streng­tes­ten Bil­dungs­kamp­fes und der künst­le­ri­schen Be­ga­bung, daß nur durch ein gro­bes Miß­ver­ständ­niß das Gym­na­si­um be­reits den An­spruch er­he­ben kann, dies Ge­fühl zu we­cken.