Boden und ihren einzigen Ausgangspunkt erhalten wird.
Eine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums wird nur aus einer tiefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes hervorgehn. Sehr geheimnißvoll und schwer zu erfassen ist das Band, welches wirklich zwischen dem innersten deutschen Wesen und dem griechischen Genius sich knüpft. Bevor aber nicht das edelste Bedürfnis; des ächten deutschen Geistes nach der Hand dieses griechischen Genius, wie nach einer festen Stütze im Strome der Barbarei hascht, bevor aus diesem deutschen Geiste nicht eine verzehrende Sehnsucht nach den Griechen hervorbricht, bevor nicht die mühsam errungene Fernsicht in die griechische Heimat, an der Schiller und Goethe sich erlabten, zur Wallfahrtsstätte der besten und begabtesten Menschen geworden ist, wird das classische Bildungsziel des Gymnasiums haltlos in der Luft hin- und herflattern: und Diejenigen werden wenigstens nicht zu tadeln sein, welche eine noch so beschränkte Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit im Gymnasium heranziehn wollen, um doch ein wirkliches, festes und immerhin ideales Ziel im Auge zu haben und ihre Schüler vor den Verführungen jenes glitzernden Phantoms zu retten, das sich jetzt »Cultur« und »Bildung« nennen läßt. Das ist die traurige Lage des jetzigen Gymnasiums: die beschränktesten Standpunkte sind gewissermaßen im Recht, weil Niemand im Stande ist, den Ort zu erreichen oder wenigstens zu bezeichnen, wo alle diese Standpunkte zum Unrecht werden.«
»Niemand?« fragte der Schüler den Philosophen mit einer gewissen Rührung in der Stimme: und beide verstummten.
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Dritter Vortrag.
(Gehalten am 27. Februar 1872.)
Verehrte Anwesende! Das Gespräch, dessen Zuhörer ich einst war und dessen Grundzüge ich hier vor Ihnen aus lebhafter Erinnerung nachzuzeichnen versuche, war an dem Punkte, wo ich das letzte Mal meine Erzählung beschloß, durch eine ernste und lange Pause unterbrochen worden. Der Philosoph sowohl wie sein Begleiter saßen in trübsinniges Schweigen versunken da: Jedem von ihnen lag der eben besprochne seltsame Nothstand der wichtigsten Bildungsanstalt, des Gymnasiums, auf der Seele, als eine Last, zu deren Beseitigung der gutgesinnte Einzelne zu schwach und die Masse nicht gutgesinnt genug ist.
Zweierlei besonders betrübte unsre einsamen Denker: einmal die deutliche Einsicht, wie Das, was mit Recht »classische Bildung« zu nennen wäre, jetzt nur ein in freier Luft schwebendes Bildungsideal ist, das aus dem Boden unserer Erziehungsapparate gar nicht hervorzuwachsen vermöge, wie Das hingegen, was mit einem landläufigen und nicht beanstandeten Euphemismus jetzt als »classische Bildung« bezeichnet wird, eben nur den Werth einer anspruchsvollen Illusion hat: deren beste Wirkung noch darin besteht, daß das Wort selbst »classische Bildung« doch noch weiter lebt und seinen pathetischen Klang noch nicht verloren hat. An dem deutschen Unterricht sodann hatten sich die ehrlichen Männer miteinander deutlich gemacht, daß bereits der richtige Ausgangspunkt für eine höhere, an den Pfeilern des Alterthums aufzurichtende Bildung bis jetzt nicht gefunden sei: die Verwilderung der sprachlichen Unterweisung, das Hereindringen gelehrtenhafter historischer Richtungen an Stelle einer praktischen Zucht und Gewöhnung, die Verknüpfung gewisser, in den Gymnasien geforderten Übungen mit dem bedenklichen Geiste unserer journalistischen Öffentlichkeit – alle diese am deutschen Unterrichte wahrnehmbaren Phänomene gaben die traurige Gewißheit, daß die heilsamsten vom classischen Alterthume ausgehenden Kräfte noch nicht einmal in unsern Gymnasien geahnt werden, jene Kräfte nämlich, welche zum Kampfe mit der Barbarei der Gegenwart vorbereiten, und welche vielleicht noch einmal die Gymnasien in die Zeughäuser und Werkstätten dieses Kampfes umwandeln werden.
Inzwischen schien es im Gegentheil, als ob recht grundsätzlich der Geist des Alterthums bereits an der Schwelle des Gymnasiums weggetrieben werden sollte, und als ob man auch hier dem durch Schmeicheleien verwöhnten Wesen unserer jetzigen angeblichen »deutschen Cultur« die Thore so weit als möglich öffnen wolle. Und wenn es für unsere einsamen Unterredner eine Hoffnung zu geben schien, so war es die, daß es noch schlimmer kommen müsse, daß Das, was von Wenigen bisher errathen wurde, bald Vielen zudringlich deutlich sein werde, und daß dann die Zeit der Ehrlichen und der Entschlossenen auch für das ernste Bereich der Volkserziehung nicht mehr ferne sei.
Nach einiger Zeit schweigsamer Überlegung wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte ihm: »Sie wollten mir Hoffnungen machen, mein Lehrer; aber Sie haben mir meine Einsicht, und dadurch meine Kraft, meinen Muth vermehrt: wirklich sehe ich jetzt kühner auf das Kampffeld hin, wirklich mißbillige ich bereits meine allzuschnelle Flucht. Wir wollen ja nichts für uns; und auch das darf uns nicht kümmern, wie viele Individuen in diesem Kampfe zu Grunde gehn, und ob wir selbst etwa unter den Giften fallen. Gerade weil wir es ernst nehmen, sollten wir unsre armen Individuen nicht so ernst nehmen; im Augenblick, wo wir sinken, wird wohl ein Anderer die Fahne fassen, an deren Ehrenzeichen wir glauben. Selbst darüber will ich nicht nachdenken, ob ich kräftig genug zu einem solchen Kampfe bin, ob ich lange widerstehen werde; es mag wohl selbst ein ehrenvoller Tod sein, unter dem spöttischen Gelächter solcher Feinde zu fallen, deren Ernsthaftigkeit uns so häufig als etwas Lächerliches erschienen ist. Denke ich an die Art, wie sich meine Altersgenossen zu dem gleichen Berufe, wie ich, zu dem höchsten Lehrerberufe, vorbereiteten, so weiß ich, wie oft wir gerade über das Entgegengesetzte lachten, über das Verschiedenste ernst wurden –«
»Nun, mein Freund«, unterbrach ihn lachend der Philosoph, »du sprichst, wie Einer, der in’s Wasser springen will, ohne schwimmen zu können, und mehr als das Ertrinken dabei fürchtet, nicht zu ertrinken und ausgelacht zu werden. Das Ausgelachtwerden soll aber unsre letzte Befürchtung sein; denn wir sind hier auf einem Gebiete, wo es so viel Wahrheiten zu sagen giebt, so viel erschreckliche peinliche unverzeihliche Wahrheiten, daß der aufrichtigste Haß uns nicht fehlen wird, und nur die Wuth es hier und da einmal zu einem verlegnen Lachen bringen möchte. Denke dir nur einmal die unabsehbaren Schaaren der Lehrer, die im besten Glauben das bisherige Erziehungssystem in sich aufgenommen haben, um es nun guten Muths und ohne ernstliche Bedenken weiter zu tragen – wie meinst du wohl, daß es diesen vorkommen muß, wenn sie von Plänen hören, von denen sie ausgeschlossen sind und zwar beneficio naturae, von Forderungen, die weit über ihre mittleren Befähigungen hinausfliegen, von Hoffnungen, die in ihnen ohne Wiederhall