Tendenz für Absichten verfolgen? Denn daß er Staatsabsichten verfolgt, geht schon daraus hervor, wie jene preußischen Schulzustände von anderen Staaten bewundert, reiflich erwogen, hier und da nachgeahmt werden. Diese anderen Staaten vermuthen hier offenbar Etwas, was in ähnlicher Weise der Fortdauer und Kraft des Staates zu Nutze käme, wie etwa jene berühmte und durchaus populär gewordene allgemeine Wehrpflicht. Dort wo Jedermann periodisch und mit Stolz die soldatische Uniform trägt, wo fast Jeder die uniformirte Staatscultur durch die Gymnasien in sich aufgenommen hat, möchten Überschwängliche fast von antiken Zuständen sprechen, von einer nur im Alterthum einmal erreichten Allmacht des Staates, den als Blüthe und höchsten Zweck des menschlichen Daseins zu empfinden fast jeder junge Mensch durch Instinkte und Erziehung angehalten ist.«
»Dieser Vergleich«, sagte der Philosoph, »wäre nun freilich überschwänglich und würde nicht nur auf einem Beine hinken. Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fern wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. Der tiefsinnige Grieche empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Noth- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Cultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Cultur gerade unter der sorgsamen und weisen Obhut seiner Noth- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei. Nicht Grenzwächter, Regulator, Aufseher war für seine Cultur der Staat, sondern der derbe muskulöse zum Kampf gerüstete Kamerad und Weggenosse, der dem bewunderten, edleren und gleichsam überirdischen Freund das Geleit durch rauhe Wirklichkeiten giebt und dafür dessen Dankbarkeit erntet. Wenn jetzt dagegen der moderne Staat eine solche schwärmende Dankbarkeit in Anspruch nimmt, so geschieht dies gewiß nicht, weil er sich der ritterlichen Dienste gegen die höchste deutsche Bildung und Kunst bewußt wäre: denn nach dieser Seite hin ist seine Vergangenheit ebenso schmachvoll wie seine Gegenwart: wobei man nur an die Art und Weise zu denken hat, wie das Andenken an unsre großen Dichter und Künstler in deutschen Hauptstädten gefeiert wird, und wie die höchsten Kunstpläne dieser deutschen Meister je von Seite dieses Staates unterstützt worden sind.
Es muß also eine eigne Bewandtniß haben, sowohl mit jener Staatstendenz, welche auf alle Weise Das, was hier »Bildung« heißt, fördert, als mit jener derartig geforderten Cultur, die sich dieser Staatstendenz unterordnet. Mit dem ächten deutschen Geiste und einer aus ihm abzuleitenden Bildung, wie ich sie dir, mein Freund, mit zögernden Strichen hinzeichnete, befindet sich jene Staatstendenz in offener oder versteckter Fehde: der Geist der Bildung, der jener Staatstendenz wohlthut und von ihr mit so reger Theilnahme getragen wird, dessentwegen sie ihr Schulwesen im Auslande bewundern läßt, muß demnach wohl aus einer Sphäre stammen, die mit jenem ächten deutschen Geiste sich nicht berührt, mit jenem Geiste, der aus dem innersten Kerne der deutschen Reformation, der deutschen Musik, der deutschen Philosophie so wunderbar zu uns redet, und der, wie ein edler Verbannter, gerade von jener von Staatswegen luxuriirenden Bildung so gleichgültig, so schnöde angesehn wird. Er ist ein Fremdling: in einsamer Trauer zieht er vorbei: und dort wird das Rauchfaß vor jener Pseudocultur geschwungen, die, unter dem Zuruf der »gebildeten« Lehrer und Zeitungsschreiber, sich seinen Namen, seine Würden angemaßt hat und mit dem Worte »deutsch« ein schmähliches Spiel treibt. Wozu braucht der Staat jene Überzahl von Bildungsanstalten, von Bildungslehrern? Wozu diese auf die Breite gegründete Volksbildung und Volksaufklärung? Weil der ächte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet, weil man die großen Einzelnen dadurch zur Selbstverbannung treiben will, daß man bei den Vielen die Bildungsprätension pflanzt und nährt, weil man der strengen und harten Zucht der großen Führer damit zu entlaufen sucht, daß man der Masse einredet, sie werde schon selbst den Weg finden – unter dem Leitstern des Staates!
Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern der Bildung! Inzwischen tröstet mich eins: dieser deutsche Geist, den man so bekämpft, dem man einen bunt behängten Vicar substituirt hat, dieser Geist ist tapfer: er wird sich kämpfend in eine reinere Periode hindurchretten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und siegreich, wie er sein wird, eine gewisse mitleidige Empfindung gegen das Staatswesen bewahren, wenn dies in seiner Noth und auf das Äußerste bedrängt, eine solche Pseudocultur als Bundesgenossen erfaßt. Denn was weiß man schließlich von der Schwierigkeit der Aufgabe, Menschen zu regieren, das heißt unter vielen Millionen eines, der großen Mehrzahl nach, grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrecht zu erhalten und dabei das Wenige, was der Staat selbst als Besitz erworben, fortwährend gegen begehrliche Nachbarn und tückische Räuber zu schützen? Ein so bedrängter Staat greift nach jedem Bundesgenossen: und wenn ein solcher gar, in pompösen Wendungen sich selbst anbietet, wenn er ihn, den Staat, etwa, wie dies Hegel gethan, als »absolut vollendeten ethischen Organismus« bezeichnet und als Aufgabe der Bildung für Jeden hinstellt, den Ort und die Lage ausfindig zu machen, wo er dem Staat am nützlichsten diene – wen wird es Wunder nehmen, wenn der Staat einem solchen sich anbietenden Bundesgenossen ohne Weiteres um den Hals fällt und nun auch mit seiner tiefen barbarischen Stimme und in voller Überzeugung ihm zuruft: »Ja! Du bist die Bildung! Du bist die Cultur!«
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Vierter Vortrag.
(Gehalten am 5. März 1872.)
Meine verehrten Zuhörer! Nachdem Sie bis hierher meiner Erzählung getreulich gefolgt sind, und wir gemeinsam jenes einsame, entlegene, hier und da beleidigende Zwiegespräch des Philosophen und seines Begleiters überwunden haben, muß ich mir Hoffnung machen, daß Sie nun auch, wie rüstige Schwimmer, die zweite Hälfte unserer Fahrt zu überstehen Lust haben, zumal ich Ihnen versprechen kann, daß auf dem kleinen Marionettentheater meines Erlebnisses jetzt einige andere Puppen sich zeigen werden und daß überhaupt, falls Sie nur bis hierher ausgehalten haben, die Wellen der Erzählung Sie jetzt leichter und schneller bis zu Ende tragen sollen. Wir sind nämlich jetzt bald an einer Wendung angelangt: und um so rathsamer möchte es sein, uns dessen noch einmal, mit kurzem Rückblick, zu versichern, was wir aus dem so wechselreichen Gespräch